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Verschwörungstheorien: Soziale Paranoia

Verschwörungstheorien: Soziale Paranoia

Verschwörungstheorien: Soziale Paranoia

Demonstration gegen Corona-Maßnahmen in Berlin: „Gib Gates keine Chance“ Foto: picture
Demonstration gegen Corona-Maßnahmen in Berlin: „Gib Gates keine Chance“ Foto: picture
Demonstration gegen Corona-Maßnahmen in Berlin: „Gib Gates keine Chance“ Foto: picture alliance/Christoph Soeder/dpa
Verschwörungstheorien
 

Soziale Paranoia

Verschwörungstheorien haben Konjunktur in Krisenzeiten. Sie reduzieren komplexe Sachverhalten und präsentieren oft einen Schuldigen als Haßobjekt. Doch sie sind nicht neu und spielten schon bei der Christenverfolgung im alten Rom oder während der Französischen Revolution eine Rolle.
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Es gibt Leute, die glauben, daß Hillary Clinton eigentlich kein Mensch, sondern ein Echsenalien ist. Es gibt Leute, die glauben, daß der Cirkus Roncalli eine Tarnorganisation von Scientology war. Es gibt Leute, die glauben, daß Weiße qua Geburt Teil einer verschworenen Gemeinschaft sind, die das Ziel hat, die viel schöneren und klügeren schwarzen „Sonnenmenschen“ (Beyoncé) niederzuhalten. Es gibt Leute, die glauben, daß Papst Franziskus eine Marionette der Illuminaten ist. Es gibt Leute, die glauben, daß eine Sekte Kinder entführt, tötet und aus deren Blut Adrenochrom gewinnt.

Was den letzten Fall betrifft, wirkt er seltsam bekannt. Tatsächlich haben zuerst die heidnischen Römer den Christen, dann die Christen den Juden vorgeworfen, Ritualmorde zu begehen, Kannibalismus zu treiben und Menschenblut zu trinken. Es handelt sich um typische Beispiele für Verschwörungstheorien. Sie mögen einen Anker an der Realität haben (im Fall der Christen die Abendmahlsfeier mit dem Austeilen von Brot und Wein als Leib und Blut Christi), aber das ändert nichts daran, daß die Folgerungen wahnhaft waren und wahnhaft sind. Das heißt, es handelte sich nicht um folgenlose Gedankenspiele, die irgendwelchen Spinnern das Gefühl von Bedeutung vermittelten, sondern um eine Art sozialer Paranoia, bei der sich den Befallenen durch keine Beweisführung und keine Andeutung des Plausibilitätsmangels die Vorstellung austreiben läßt, daß es eine Konspiration im Dienste des Bösen gibt, die ihnen oder gleich der Menschheit nach dem Leben trachte. 

Ein unsichtbarer und deshalb um so gefährlicherer Gegner

Christen- wie Judenverfolgungen gingen darauf zurück, daß solche Vorstellungen massenhaft Glauben fanden und zu brutalen Maßnahmen der Obrigkeiten oder zu Ausbrüchen mehr oder weniger organisierten Volkszorns führten, der zahlreiche Opfer forderte. Als Rechtfertigung diente immer, daß man einen zwar unsichtbaren, aber deshalb um so gefährlicheren Gegner bekämpfe. Daß die Schuld der Angeklagten in der Regel nicht belegt werden konnte, hinderte den Furor kaum. Vielmehr konnte gerade das, was nach üblichen Maßstäben als Indiz der Unverdächtigkeit gelten mußte, demjenigen besonders verdächtig erscheinen, der von einer umfassenden Verschwörung überzeugt war.

Wer meint, das alles seien Erscheinungen einer fernen Vergangenheit, kann durch einen Blick auf die Geschichte der Moderne belehrt werden. Komplottheorien dienten in den vergangenen Jahrhunderten immer wieder als Treibsatz politischer Umsturzbewegungen. Das gilt auch für die Französische Revolution. Denn war deren erster Akt – der Ballhausschwur der Abgeordneten des Dritten Standes – ein Vorgang, an dem nur eine Fraktion der Elite des Landes teilhatte und der für sich genommen keine größere Wirkung haben mußte, spielten für den Sturm auf die Bastille wie für die Bauernaufstände in den Provinzen Verschwörungsideen eine wichtige Rolle.

Den Endpunkt der Entwicklung nicht erreicht

Was den ersten Vorgang betrifft, gab die von den Pamphletisten in Umlauf gebrachte Vorstellung den Ausschlag, daß die „Zwingburg“ des Königs auch ein „Kerker des Tyrannen“ war, in dessen Verliesen zahllose Opfer schmachteten, während der zweite das Ergebnis einer Massenhysterie war, deren Kern das Gerücht bildete, es zögen von Aristokraten und Jesuiten und feindlichen Agenten gedungene Mörderbanden durch die Gegend, um jeden Freund der Freiheit zu meucheln.

Seit der „Grande Peur“, der – eigentlich ursachenlosen „Großen Angst“ des Sommers 1789 – spielte vor allem der Jesuit als Drahtzieher in linken Verschwörungstheorien eine wichtige Rolle. Die konnten außerdem eine spezifisch protestantische oder nationale Färbung annehmen und zuletzt auch Teil der NS-Ideologie werden. Die adaptierte allerdings in erster Linie die Vorstellung einer jüdischen Verschwörung. Was nicht bedeutet, daß jeder in Hitlers Umfeld oder gar die Bevölkerungsmehrheit die „Protokolle der Weisen von Zion“ für bare Münze genommen hat.

Wichtig ist außerdem der Hinweis, daß damit kein Endpunkt der Entwicklung erreicht war. Ohne Zweifel hatte der Neomarxismus der Achtundsechziger starke Züge einer Verschwörungstheorie, und selbstverständlich galt dasselbe für das Ideenkonglomerat, das die Anfänge der ökologischen Bewegung bestimmte: von der Annahme, daß die Pharmaindustrie die Gesundheit der Menschen systematisch zerstörte, um ihre Medikamente an den Mann zu bringen – hier liegt eine Wurzel der Impfgegnerschaft – über die Vorstellung, daß die Nahrungsmittelkonzerne uns durch Zucker oder die Regierung durch Jod im Trinkwasser zu willenlosen Zombies machen wollten. 

Komplott-Thesen haben Konjunktur in Krisenzeiten

Es ist unschwer zu erkennen, daß die These vom weitreichenden Komplott besondere Konjunktur in Krisenzeiten hat, die Verunsicherung auf jeden Fall dazu führt, daß sie mehr Aufmerksamkeit erhält. Dasselbe gilt für den Okkultismus, der ihr eng verwandt ist, zumal er verheißt, das „verborgene“ (lateinisch occultus) Wissen zu enthüllen. Ihre strukturelle Ähnlichkeit liegt darin begründet, daß sie eine alternative Welterklärung bieten, die einerseits das Bedürfnis nach Sensation befriedigt, andererseits geeignet ist, komplexe Sachverhalte soweit zu reduzieren, daß sie auch dem schlichteren Gemüt eingängig erscheinen und nicht zuletzt: daß sie einen Schuldigen als Haßobjekt präsentieren.

Um nicht mißverstanden zu werden: Verschwörungen spielen immer eine ganz wesentliche Rolle für die Machtkämpfe in Gesellschaft und Politik, und im allgemeinen sind Verschwörungstheorien harmlos. Aber wer in der Versuchung ist, sich einer auszuliefern, sollte zuerst Ockhams Rasiermesser erproben, womit jenes Prüfmittel der Erkenntnis gemeint ist, das uns ermöglicht, zu klären, ob nicht eine einfache Erklärung ausreicht, den in Frage stehenden Sachverhalt zu begreifen. Das heißt, bevor ich den „tiefen Staat“ hinter jeder Ecke lauern sehe oder annehme, daß der 5G-Standard die totale Überwachung durch die Kanzlerin bringt oder Bill Gates mit seinen Milliarden und seinen humanitären Maßnahmen endlich erreicht, wovor alle Verschwörungstheoretiker nicht müde werden zu warnen: die Übernahme der Weltherrschaft durch den Finsterling. 

JF 34/20

Demonstration gegen Corona-Maßnahmen in Berlin: „Gib Gates keine Chance“ Foto: picture alliance/Christoph Soeder/dpa
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