Mai 1986: Ausnahmezustand in Berlin. Zwei Tage und Nächte stehen die Leute vor der Philharmonie und vor dem Kartenbüro der Berliner Festspiele, innerhalb von nicht einmal zwei Stunden sind die Karten ausverkauft, zu Preisen von bis zu 300 D-Mark, auf dem Schwarzmarkt bis zu 600 D-Mark. Horowitz ist zurück in Europa, in der alten Heimat, Moskau, Leningrad, und dann in den beiden Städten des Landes, wo seine Weltkarriere begonnen und das er 1932 für mehr als fünfzig Jahre verlassen hatte.
Am 14. Mai trifft Horowitz in Berlin ein, am 18. Mai, Pfingstsonntag, ist das Konzert, wie immer bei Horowitz vier Uhr nachmittags, der Sender Freies Berlin überträgt. Die Rundfunkübertragung liegt jetzt auf CD vor, in der einen Variante die von Horowitz gespielten Stücke allein (Sony Classical 88697 52701-2), in der anderen Variante mit der kompletten Moderation des Konzerts durch Norbert Ely und den Pausengesprächen mit Franz Mohr, Horowitz’ Klaviertechniker, Wolfgang Stresemann, Intendant der Berliner Philharmoniker im Ruhestand, und Peter Geld, Horowitz’ Manager (88697 57353-2). Sie machen die Veröffentlichung in der Tat zu einem Dokument bundesrepublikanischer Rundfunk- und Kulturgeschichte.
Für die Honoratioren des alten West-Berlin mag es wohl weniger ein Konzert als vielmehr ein gesellschaftliches Ereignis gewesen sein, zu dem sie sich die Ehre gaben, den russischen Emigranten einzuberlinern. Bemerkenswert ist das taktvolle Agieren eines Moderators, der sich, hoch oben auf den „Rebhängen“ der Philharmonie plaziert, wohltuend zurückhält, nur leise die unumgänglichen Informationen zwischen den Programmteilen gibt, sofort abbricht, wenn der große Horowitz zum nächsten Block wieder auf dem Podium erscheint. Das Medium ist die Botschaft, aber Horowitz ist das Medium. Zu hören sind die Beifallsorkane vor und nach jedem Block, die konzentrierte Stille während seines Spiels, um ja keinen Ton, keine Nuance, kein noch so kleines Zeichen seiner musikalischen Botschaften zu überhören, ja keinen der unwiederbringlichen Momente des legendären Konzerts dieses legendären Künstlers zu verpassen, von denen wir, bei aller tontechnischen Könnerschaft, mit der die originalen Analogbänder aufgearbeitet wurden, immer nur einen unvollkommenen Eindruck behalten werden – wir, die wir nicht dabeigewesen.
Was er spielt, verwandelt er seiner Persönlichkeit restlos an, selbstverständlich alles andere als und doch auch wieder werktreu, sein Spiel bringt etwas aus den Noten zum Vorschein, das in den Noten nicht zu lesen war, aus den Noten dreier Scarlatti-Sonaten, von Schumanns „Kreisleriana“, Kernstück des Programms, von Liszt, Rachmaninow, Skjabin, Chopin und der unvermeidlichen Zugaben: natürlich Schumanns „Träumerei“, natürlich Liszts Valse oubliée Nr. 1 und natürlich Moszkowskis „Étincelles“.
Und in demselben Maße, wie das Publikum von Erscheinung und Spiel des kindlichen Greises ergriffen wird, wird auch er von der Ergriffenheit seines Publikums ergriffen, eines Publikums, auf das er, wie er später dann sagt, mehr als sechzig Jahre hatte verzichten müssen. Eine Woche später wird Horowitz ein weiteres Konzert in Berlin geben. Die Aura des Künstlers bewahrt der Mitschnitt des ersten Konzerts.