Wo sich heute das Reichstagsgebäude mit dem Deutschen Bundestag befindet, stand bis 1883 am damaligen Königsplatz das Palais von Athanasius von Raczynsky. Der Graf, einem großpolnischen Adelsgeschlecht entstammend, hatte sich 1826 entschlossen, nach Berlin zu ziehen. Den Mittelpunkt des zwischen 1842 und 1844 erworbenen Palais bildete eine prächtige Galerie, in der sich Meisterwerke der klassischen italienischen Malerei wie Botticellis „Madonna mit dem Kind und singenden Engeln“ sowie der spanischen Malerei wie Juan Cerenos de Mirandas „Auferstehung“ und Francisco de Zurbarans „Von den Kartäusern angebetete Rosenkranzmadonna“ befanden. Zum anderen bestand die Sammlung aus zahlreichen Werken der zeitgenössischen Kunst, fast die Hälfte davon waren Auftragsarbeiten. Zudem richtete der Graf in dem Gebäude zahlreiche Künstlerateliers ein. So residierte im südlichen Flügel bis zu seinem Lebensende Peter Cornelius.
Die Geschichte des Kunstmäzens Raczynsky in Berlin, der seine Lebenspläne durch eine diplomatische Karriere zunächst in sächsischen und dann in preußischen Diensten verwirklichte, steht nicht ohne Grund am Prolog der Ausstellung „Wir Berliner – My, berlińczycy“, die bis zum 14. Juni im Berliner Ephraim-Palais besichtigt werden kann. Die Initiatoren wollen in Frage stellen, daß es nur polnische Wanderarbeiter waren, die auf der Suche nach einem besseren Verdienst in die zunächst preußische und später deutsche Hauptstadt zogen. Vielmehr waren es neben Künstlern und Wissenschaftlern auch zahlreiche politische Dissidenten, zum Beispiel aus der Solidarność-Bewegung, für die Berlin zur zweiten und häufig schließlich auch zur ersten Heimat wurde.
Die polnische Zuwanderung nach Berlin und Deutschland weist eine lange Tradition auf: Schließlich wurden nach dem sukzessiven Verschwinden der polnisch-litauischen Adelsrepublik am Ende des 18. Jahrhunderts die auf dem nunmehrigen preußischen Territorium lebenden Polen zu preußischen Staatsangehörigen, aus deren ausgeprägtem Nationalbewußtsein freilich erhebliche Spannungen resultierten. Zudem bewirkte das kontinuierliche Freiheitsstreben der Polen im benachbarten Zarenreich, daß die Ansichten der Deutschen über ihre polnischen Nachbarn stark divergierten,
Für die einen waren die Polen heldenmutige Kämpfer und bewundernswerte Patrioten, die trotz der erdrückenden Überzahl der Gegner ihren Traum von einem eigenen Staat niemals aufgaben. Als 1847 gegen 254 Polen vor dem königlichen Kammergericht in Moabit wegen des Verdachts der gemeinschaftlichen Verschwörung ermittelt wurde, solidarisierte sich ein beträchtlicher Teil der deutschen Liberalen mit den Angeklagten. Bettina von Arnim bat in einem Brief an König Friedrich Wilhelm IV. um die Begnadigung der Verurteilten.
Ebenso groß war die Anteilnahme vieler Deutscher beim polnischen Aufstand in Rußland von 1863. Für die deutschen Sozialdemokraten galt die 1898 nach Berlin gekommene Rosa Luxemburg über viele Jahre als Vorbild einer polnischen Vorkämpferin der Arbeiterklasse. Und nicht zuletzt spielte für die DDR-Opposition der Austausch mit Teilnehmern des Posener Aufstands von 1956 und der Solidarność eine wesentliche Rolle.
Dem stehen auf der anderen Seite Beurteilungen gegenüber, die in den Polen politische Unruhestifter sahen, die ihre eigenen Interessen auf Kosten und zum Schaden Deutschlands durchsetzen würden. So verwies Bismarck immer wieder auf seine Erlebnisse aus der Revolution von 1848/49, die sein Bild von den Polen nachhaltig geprägt hätten. In der Magdeburger Zeitung schilderte er seine Empfindungen so: „Die Befreiung der wegen Landesverrat verurteilten Polen ist eine der Errungenschaften des Berliner Märzkampfes, und zwar eine der wesentlichsten. Die Berliner haben mit ihrem Blute die Polen befreit und sie dann eigenhändig im Triumph durch die Straßen gezogen. Zum Dank dafür sind die Befreiten bald darauf an der Spitze von Banden … So hat deutscher Enthusiasmus wieder einmal zum eigenen Schaden fremde Kastanien aus dem Feuer geholt.“
Es mag bezeichnend sein, daß die historische Blütezeit des deutsch-polnischen Verhältnisses auf politischer Ebene ausgerechnet zwischen der Machtübernahme der NSDAP und dem Frühjahr 1938 lag. 1934 nahm die polnische Botschaft ihre Arbeit auf. An der am 18. Mai 1935 in der Hedwigs-Kathedrale zu Berlin veranstalteten Trauerfeier für Marschall Józef Piłsudski nahmen nahezu sämtliche hochrangigen NS-Politiker mit Adolf Hitler an der Spitze teil. Der Verein der Polen in Deutschland erreichte seine maximale Mitgliederzahl. Erst mit der Vertreibung von 6.000 Juden, die polnische Staatsbürger waren, begannen sich die drastischen Entwicklungen der Jahre 1939 bis 1945 abzuzeichnen.
All diese Spannungsverhältnisse machen den Rundgang durch die Ausstellung „Wir Berliner“ zu einem reizvollen Erlebnis. Zumal das Widersprüchliche des deutsch-polnischen Verhältnisses bis in die Gegenwart greifbar ist: Dem Tauziehen um das Zentrum gegen Vertreibungen und der massiven polnischen Einmischung in Personalfragen der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhnung“, stehen zahlreiche enge und freundschaftliche Kontakte zwischen deutschen und polnischen Vertriebenen auf privater Ebene gegenüber.
Die Ausstellung „Wir Berliner! My, berlinczyzy!– Geschichte einer deutsch-polnischen Nachbarschaft“ ist bis zum 14. Juni im Berliner Ephraim-Palais, Poststr. 16, täglich außer montags von 10 bis 18 Uhr, Mi. bis 20 Uhr, zu sehen.
Der reich bebilderte Ausstellungskatalog kostet 29 Euro.
Foto: Kampf um Begriffe: Polnische Reichstagsabgeordnete engagierten sich stark für die polnische Sache