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Der Beginn der Heimatvergessenheit

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Gegen Ende seiner „Geschichte der deutschen Vertriebenen“ erzählt Andreas Kossert eine Schnurre über Angela Merkel, die sich einprägt. In Polen habe eine Journalistin herausgefunden, daß die Mutter der Bundeskanzlerin eine gebürtige Elbingerin ist. Den Lesern der Hessisch-Niedersächsischen Allgemeinen durfte sie daher im März 2007 verraten, Mutter Merkel sei in „Elbląg“ zur Welt gekommen, und dessen Einwohner freuten sich unbändig über die „polnischen Wurzeln“ von dessen berühmter Tochter. Gedächtnisschwund einer westdeutschen Lokalredaktion und notorisch dreiste polnische Geschichtspropaganda produzierten diesen Unfug. Und aus solcher Tatgemeinschaft entsteht er fast täglich neu. Meistens ist polnische Mithilfe dabei sogar unnötig. Die „polnischen“ Geburtsorte, die viele Ostdeutsche soeben mit ihren neuen Steuernnummern zudiktiert bekamen, geben dafür ein aktuelles Beispiel. Für Kossert sind das Symptome des großen Vergessens eines wichtigen Teils deutscher Geschichte und Kultur: „Mit dem Verlust des deutschen Ostens ging auch das Wissen verloren, schwand das Interesse an der jahrhundertealten, reichen Kultur in diesem Raum. Nach Flucht und Vertreibung wurden schließlich auch die Vertreibungsgebiete aus dem Gedächtnis verbannt, ja vertrieben.“ Wie es dazu kommen konnte, versucht der am Warschauer Historischen Institut tätige Zeithistoriker aus der deutsch-deutschen Nachkriegsgeschichte abzuleiten. Dabei steckt er zunächst den geschichtspolitisch konformen Rahmen ab, der seinen Deutungsangeboten vorgegeben sein soll. Mithin sind die üblichen Geßlerhüte zu grüßen: 14 Millionen Vertriebene zwischen 1944 und 1948 haben darum Opfer zu sein „des von Deutschland entfesselten Zweiten Weltkriegs“, speziell des „totalen Vernichtungskriegs“, der sich „schließlich gegen die Deutschen selbst“ wendete und sie der „Rache der Opfer“ aussetzte. Damit läßt es Kossert aber bewenden. Nach dieser Devotion finden sich sogar jede Menge Widerrufe, die solche Herleitungen wie Voodoo-Kausalität aussehen lassen — wenn er nämlich ausführt, wie sich aus diesen Eckdaten nach 1968 das Konstrukt ergab vom „Volk der Täter“, das nicht Opfer sein durfte und die „Kaltherzigkeit“ der Nachkriegsgeneration gegenüber dem Schicksal der Vertriebenen hervorgebracht habe. Die „politische Linke“, so zitiert er Otto Schily (SPD), habe aufgrund dieser Desorientiertheit über die „Vertreibungsverbrechen, über das millionenfache Leid, hinweggesehen“. „Willige Historiker“ wie Wolfgang Benz (TU Berlin) dürfen sich bis heute ermutigt fühlen, wenn sie „die Vertreibung moralisch rechtfertigen“ und die Opferzahlen auf 30.000 heruntermanipulieren. Aber linke Geschichtsideologie erklärt für Kossert nur die gewaltige Verdrängungsleistung, die sich ab 1970 in der Bundesrepublik in flächendeckender Entsorgung von Mahnmalen an die Vertreibung, Straßen- und Schulumbe­nennungen, amtlich sanktionierter Quellenunterdrückung, medialer Schweigespirale oder allerlei „Sprachregelungen“ realisierte. Die erste, elementare Ablehnung beschreibt Kossert im Kapitel über den „deutschen Rassismus gegen die deutschen Vertriebenen“, wie er Millionen von Ost- und Südostdeutschen vor allem in den ländlichen Regionen zwischen Nordfriesland und Oberbayern entgegenschlug. Die bis zum 8. Mai 1945 zum Leidwesen der Alliierten moralisch anscheinend unerschütterliche „Volksgemeinschaft“ schien sich beim Eintreffen der „Polacken“ in Westdeutschland schlagartig in eine Klassengesellschaft von Besitzern und Habenichtsen zu verwandeln. Die auch von Vertriebenenverbänden später gern gerühmte „Integration“ im Westen verweist Kossert mit eindrucksvollen Zeugnissen einer Abwehrfront, die ihre „Reihen fest geschlossen“ hielt, damit ins Reich der Legende. Wohl deshalb hoffte noch die Hälfte der Vertriebenen 1962 auf eine Rückkehr in die Heimat. Daß der politische Wille, auf diese Rückkehr hinzuarbeiten, nie vorhanden war, von CDU und SPD gleichermaßen aus wahltaktischen Gründen vorgetäuscht wurde — am unverschämtesten vielleicht von Willy Brandt, der 1963 die Schlesier mahnte: „Verzicht ist Verrat“, und der 1969 als Kanzler umgehend das Bundesvertriebenen-Ministerium auflöste —, eröffnet eine andere Dimension der Fremdheitserfahrung im „kalten Westen“. Mit dem letztlich kargen Lastenausgleich wollte Bonn sein Solidaritätssoll erfüllt haben. Diesen materiellen Aspekt der Vertriebenengeschichte, die millionenfache, Westdeutschland einen „Modernitätsschub“ versetzende Existenzneugründung von Entwurzelten, denen aus politischer Vorsicht selten eine landsmannschaftlich geschlossene Ansiedlung gestattet war, schildert Kossert mit oft ermüdender statistischer Penibilität als BRD-Sozialgeschichte. Hier sowie im sich leider in der Aufzählung von Autoren und Buchtiteln erschöpfenden Kapitel über „Flucht, Vertreibung und Vertriebene in Literatur und Medien“ und den auch nicht eben prickelnden Ausführungen über das — von den Landsmannschaften schlecht genug verwaltete — „kulturelle Erbe der Vertriebenen“ erreicht der Leser zweifellos nicht die Höhepunkte dieser Darstellung. Ungleich spannender ist zu lesen, wenn Kossert sich mit der Tabuisierung der „Vertreibung“ in der DDR sowie den SED-Repressionen gegen deren „Umsiedler“ getaufte Opfer befaßt. Auf wenig beackertes Terrain stößt er mit seinen Hinweisen auf die psychischen Folgen des Heimatverlustes vor. Unter ihnen leiden viele selbst schon zu „wirtschaftswunderlichen“ Zeiten geborene „Flüchtlingskinder“ sechzig Jahre nach dem „Phylozid“ (Alfred Heuss) an den Ostdeutschen und den von ihren Eltern vermittelten Traumata. Von hier aus hätte der Autor ruhig noch einige Rückschlüsse auf die „Anthropologie der deutschen Nachkriegsgesellschaft“ ziehen dürfen, zu der nach Gustav Seibt die „massenhafte Elementarerfahrung von Obdachlosigkeit und Flucht“ zählt. Daß die Deutschen darauf mit einem Ordnungs- und Sicherheitssyndrom reagierten, wie Kossert mit Seibt meint, ist leicht zu erkennen. Brisanter wäre zu fragen, ob sie ohne ihre ostdeutschen Provinzen ihre Identität als Reichsvolk verloren und damit ihren Willen zur nationalen Selbstbestimmung? Ob die kollektive Demenz, der das östliche Kulturerbe anheimgefallen ist, dazu beitrug, den restdeutschen „Weg nach Westen“ und zur Auflösung in „Europa“ oder „Multikulti“ zu öffnen? Foto: Heimatabend der Egerlandjugend in München, 1960er Jahre: Allgemeine „Kaltherzigkeit“ der Nachkriegsgeneration gegenüber dem Schicksal der ostdeutschen Vertriebenen Foto: Hinweistafel am Hauptbahnhof von Bremen, Ende der 1940er Jahre: Volksgemeinschaft wurde schlagartig zur Klassengesellschaft Andreas Kossert: Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945. Siedler Verlag, München 2008, gebunden, 431 Seiten, Abbildungen, 24,95 Euro

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