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Der Wille zum Nichts

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Alte, trotzdem immer wieder mißachtete Weisheit der Zeitschriftenverleger: Sogenannte „Themenhefte“ lohnen das Papier nicht, auf dem sie gedruckt sind. Sie riechen nach Schulaufsatz. Spätestens nach Lektüre des dritten oder vierten Beitrags in so einem Themenheft legt es der Leser gelangweilt beiseite, und es verschwindet im Archiv, günstigstenfalls. So wird es möglicherweise auch dem August/September-Doppelheft des Berliner Merkur, der „Deutschen Zeitschrift für europäisches Denken“, ergehen, das von hinten bis vorn unter das Generalthema „Dekadenz“ gestellt ist. Dekadenz oben, Dekadenz unten. Dekadenz in der Biologie, Dekadenz in der Herrenmode. Dekadenz beim Sex, Dekadenz beim Selbstmordattentat. Dekadenz bei den alten Römern, Dekadenz bei den Ägyptern der dritten Dynastie. Und so weiter und so fort. Die Herausgeber haben die Kalamität wohl selbst gespürt, und so haben sie den Titel ihres Heftes ein bißchen angereichert. „Kein Wille zur Macht. Dekadenz“ heißt das genaue Thema, das man den Autoren vorgegeben hat. Doch damit waren diese – bis auf einen – wohl weitgehend überfordert, zumal die wenigsten offenbar wissen, was es mit dem Begriff des „Willens zur Macht“ auf sich hat. In den meisten der Aufsätze geht es exklusiv um die Dekadenz, kein Wille zur Macht nirgends. Das Ganze wirkt ziemlich ranzig, nicht zuletzt weil das Reden über Dekadenz überhaupt längst ranzig geworden ist, nur noch an die Belle époque von vor hundert Jahren erinnert, als man sich in den Salons eifrig gegenseitig versicherte, daß die Gegenwart durch und durch „dekadent“ sei und endlich ein großer Kladderadatsch kommen müsse, um die Geister aufzufrischen. Mit dem Ersten Weltkrieg kam der Kladderadatsch dann ja auch. Aber das ist ziemlich lange her, und wenn das Merkur-Doppelheft etwas beweist, so allenfalls dies, daß die aktuelle Lage von heute faktisch nichts, rein gar nichts mit der Lage um 1900 zu tun hat. Damals bei den avanciertesten Geistern, aber nicht nur bei ihnen, Ungenügen, Unzufriedenheit, Aufbruchstimmung, Erwartung ungeheurer, völlig neuartiger Ereignisse. Heute allerorten Kleinmut und Sicheinrichten im Gewordenen, durchaus auch satte Zufriedenheit, Hoffnung auf Sicherung des „Erreichten“, Akzeptanz des Neuen nur noch als harmlosen „Event“, das für einen Moment ein bißchen „unterhält“. Nun könnte man natürlich just diese muffige Angekommenheit, dieses Ausruhen auf fremden Lorbeeren als dekadent kritisieren (obwohl der ursprüngliche Wortsinn das nicht hergibt; „Dekadenz“ heißt bekanntlich nichts weiter als „Abstieg“). Aber das Gros der Merkur-Autoren tut das nicht. Es waltet bei ihnen vielmehr der schiere Lobpreis auf die Muffigkeit, sie halten „den Westen“ in seiner gegenwärtigen Verfassung für das absolute Maß aller Dinge und sind höchstens auf ihn etwas böse, weil er sich ihrer Meinung nach nicht hinreichend zur Verteidigung seiner Errungenschaften bereit findet. „Für unsere Dekadenz müssen wir kämpfen“, mahnt drolligerweise Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer. Eine deutlich erkennbare „bellizistische“ Fraktion unter den Autoren (Hans Ulrich Gumbrecht, Josef Joffe, Richard Herzinger) geht noch einen Schritt weiter und unterscheidet scharf zwischen den USA und Europa, wirft letzterem vor, die USA in ihrem Kampf gegen die außerwestlichen, oft dezidiert antiwestlichen Herausforderungen nicht genügend zu unterstützen oder sie gar gänzlich im Stich zu lassen. Dies sei die eigentliche Dekadenz, ein sehr bedauerliches Phänomen. Solche Bellizistenrede bedeutet jedoch nicht, daß man Europa im Merkur zu neuem Willen zur Macht verhelfen will, im Gegenteil, Europa soll gerade keinen eigenen Machtwillen mehr ausbilden, soll sich widerspruchslos in die Disziplin „des Westens“ einordnen und für den großen US-Sheriff willig den Hilfssheriff spielen. So also klingt der Grundtenor des kuriosen diesjährigen Merkur-Doppelhefts. Indes, es gibt eine Ausnahme, eine schallende, ja, geradezu gellende Gegenstimme, und es ist diese Gegenstimme, die den Erwerb des Heftes lohnend macht. Norbert Bolz ist es, der sich querlegt. Sein Beitrag mit dem Titel „Die Religion des Letzten Menschen“ nimmt als einziger das gestellte Thema voll beim Wort: „Dekadenz“ und „Wille zur Macht“ als Epochenwörter der Zeit um 1900, der „Nietzschelage“ (wie Gottfried Benn formuliert hat), und was die Betrachtung dieser Lage für uns Heutige so wichtig macht. Bolz‘ Essay unterscheidet sich schon formal von den übrigen. Er ist hochgelehrt und doch kapriziös wie ein barfüßiges Schreiten über heiße Steine. Er strotzt vor interessanten Mitteilungen und unnachsichtigen Urteilen. Es macht Spaß, aus ihm zu zitieren. „Der Weg des Letzten Menschen führt vom Seelenheil zum Sozialheil.“ – „Menschlich ist heute das, was der Mensch nicht mehr ist.“ – „Die fröhlich konsumierenden Roboter spüren nichts von dem, was Heideg­ger ‚die Not der Notlosigkeit‘ nannte – ist es das, was der Begriff Dekadenz einmal meinte?“ „Der Letzte Mensch“ – das war jener Europäertyp, den Nietzsche im „Zarathustra“ mit unheimlicher Präzision als Mischprodukt aus sozialer Sekurität und gottlosem Nihilismus beschrieb. Der „Letzte Mensch“ hält sich für das Größte auf der Erde, ist jedoch in Wirklichkeit das Verächtlichste. Seine Heraufkunft signalisiert totales Verhängnis. Wenn dem „Letzten Menschen“ kein wirksamer Gegentyp entgegengestellt wird, verröchelt „Mutter Erde“ (Nietzsche) unter Bergen von Müll, Banalität und Sklavenmoral. Bolz nimmt das direkt auf, reichert es mit neuen Erkenntnissen an, diagnostiziert das Vollbild des „Letzten Menschen“ schließlich gnadenlos im Typ des aktuellen Intellektualspießers, wie er derzeit überall bei uns herrscht und sich nicht zuletzt im Doppelheft des Merkur breitmacht. Zitat: „Die Frage nach der Dekadenz führt uns zu jenen Formen, die heute als männlichkeitsfeindliche Ersatzreligionen erkennbar werden: Feminismus, Pazifismus, Environmentalismus, Konsumismus.“ Der Bolzsche Aufsatz erscheint um so bemerkenswerter, als er aus der Feder eines Autors stammt, der vor noch gar nicht langer Zeit das „Konsumistische Manifest“ (Wilhelm Fink Verlag, München, JF 47/02) auf den Markt warf, ein penetrantes Plädoyer für die Ersetzung eigenständigen Denkens durch „kultgeiles Shoppen“ und die weltweite Installierung des totalen Konsumismus als einzigen Mittels zur Überwindung von Hunger, Krieg und Terror. Wir haben es also bei dem Merkur-Beitrag von Norbert Bolz mit dem Dokument einer echten Konversion zu tun, und wie viele, vielleicht die meisten Konversionen bringt zweifellos auch diese einen Erkenntnisfortschritt. Der Kern der Botschaft heißt: Europa muß sich ändern, wenn es nicht versklaven will. Wir brauchen zwar keinen „Neuen Menschen“, gar „Übermenschen“, wie Nietzsche meinte, aber auf jeden Fall brauchen wir Männlichkeit und Willen zur Macht, allem Dekadenz-Gerede zum Trotz. Foto: Einkaufsparadies in den Schloß-Arkaden Braunschweig: „Der Weg des Letzten Menschen führt vom Seelenheil zum Sozialheil“ (N. Bolz) Kein Wille zur Macht – Dekadenz. „Merkur“-Doppelheft 9/10, Klett-Cotta, Stuttgart 2007, broschiert, 250 Seiten, 19 Euro

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