Kann man Geschichte „wissenschaftlich“ untersuchen? Jörg Baberowski, Historiker an der Humboldt-Universität, verneint diese Frage resolut. Auch die methodisch beste Quellendarstellung mache historische Ereignisse nicht verstehbar. Stets unterliegen sie „neuen Deutungen“. Jede Quelle spreche nur „zu den Bedingungen des Historikers“, der gemäß aktuellen „Bedürfnissen“ interpretiere. Leopold von Ranke wollte die Vergangenheit objektiv wiedergeben, doch sei er gescheitert. Historische Tatsachen „richtig“ verknüpfen? Unmöglich! Keine Realität existiere unabhängig vom Bewußtsein. Wenn aber die Geschichte spiegelt, was der Affe sehen will, wozu braucht man sie dann? Historiker erfinden „Mythen“, deuten „Symbole“, die dem „menschlichen Leben einen Halt geben“, beschreiben aber nicht Tatsachen. „Fehler und ‚Irrtümer‘ der Vergangenheit wohnen nur in unseren Köpfen. Es gibt so viele Wirklichkeiten, wie es Menschen gibt, sie auszulegen.“ Sofern Historiker Werturteile formulieren, bestreitet das niemand. Indes postulierte die Aufklärung, logische Tatsachenanalyse und Wertung zu trennen. Baberowski lehnt diese Möglichkeit ab und reanimiert vorwissenschaftliche Standpunkte. Der Autor zitiert kaum Fachhistoriker, sondern bemüht Hegel, Marx, Dilthey, Heidegger, Gadamer, Foucault. Philosophie und Theologie ähneln einander wie siamesische Zwillinge. Hegel und andere Dogmatiker kostümierten uralte Mythen, verschmolzen Subjekt und Objekt, zwar auf unterschiedliche Art, immer jedoch spekulativ. Bereits Kant mißachtete die dingliche Welt als fremdartigen Schatten. Jene verhängnisvolle Weichenstellung setzten Hegel und Heidegger fort, indem sie alles „Reale“ endgültig zu ontologischen oder transzendentalen Begriffen zerstäubten. Der Historiker, schreibt Baberowski, entrinne nie „zeitlicher und kultureller Gebundenheit“, und daher sei es nicht zu bedauern, wenn die „Quellen kein vollständiges Bild vom Geschehen geben“. Folgt man seiner Logik, erübrigt sich der Gang ins Archiv. Welche Wohltat, die Geschichte ohne philosophischen Ballast zu betrachten, ganz unbefangen. Jörg Baberowski: Der Sinn der Geschichte. Geschichtstheorien von Hegel bis Foucault, C.H. Beck Verlag, München 2005, 250 Seiten, 12, 80 Euro