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Unter der Herrschaft des Verdachts

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Unter der Herrschaft des Verdachts

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Totalitäre Theorien verfügen über ein Immunsystem, das jede Kritik sofort zum Anwendungsfall der Theorie macht. Die ist – wie der Igel „allhier“ – schon immer da, behält stets recht. Daß Terrorregime dies praktizieren, leuchtet ein. Daß auch liberale Gesellschaften solche Steuerungsinstrumente einsetzen, überrascht. Doch haben zahllose Skandale, Affären, Kampagnen uns inzwischen darüber belehrt, wie eng die Meinungsspielräume der „offenen Gesellschaft“ werden können, wie schnell die „Grenzenlosigkeit“ zum Strich eines rigorosen Konformismus verkommt. Die Frage, wieso Anspruch und tatsächliches Verhalten der „freien Welt“ so auseinanderklaffen, bewegt Arne Hoffmann in seinem neuen Buch. Es fokussiert mit „Antisemitismusdebatten in Deutschland“ mutig das heikelste Thema deutscher Öffentlichkeit. Ein riskantes Terrain, verdichteten die letzten Jahrzehnte doch Drittes Reich, Krieg und Holocaust zu einem universalen geschichtsphilosophischen Passepartout. Für viele „starb Gott in Auschwitz“. Sein Tod „verstrahlt“ nun unsere Gegenwart, bleibt doch ein monotheistisches Phantom zurück – und eben die Shoa als das „zentrale Kraftwerk der Moralwirtschaft“. Die bestimmt den sozialen Code durch Begriffe wie: Schuld, Täter-Opfer, Sühne, Erinnerung. All das macht deutsche Gedenkpolitik zu einer „überdeterminierten Institution“ im Sinne Gehlens. Zu ihr gehören „Totem“, „Tabu“, und „Ritual“. Dieses Raster legt Hoffmann nun seiner Analyse zugrunde. Minutiös rekonstruiert er die Skandale der letzten Jahre im Spiegel der Medien. Kommunikationswissenschaftliche Deutung, so Kepplingers Skandalthese zur modernen „Erregungsgesellschaft“, ergänzt seine Überlegung. Neben Rückblenden behandelt seine Themenreihe: Jürgen Möllemann, Michel Friedman, Martin Hohmann, Reinhard Günzel, Johannes Rogalla von Bieberstein, Roland Koch, Norbert Blüm, Martin Walser, Ted Honderich, Attac, Hans Leyendecker, „Panorama“, die Bundeszentrale für politische Bildung, Konrad Löw und Johannes Paul II. – Personen also, Medien und Organisationen, die seit 2001 in den Strudel diffamierender Kampagnen gerieten. Die Folgen für die Betroffenen variieren, sie reichen von Zensur und Medienhetze über Stigmatisierung, Statusverlust und Berufsverbot bis hin zum Suizid. Vorteil der aktuellen Studie: Der Autor hat einschlägige Webadressen und Internetforen ausgewertet, methodischer Reflex auch seiner Beobachtung zweier Meinungslager im Sinn der „Schweigespirale“. Das Internet zeichnet er optimistisch als Spielraum informeller Gegenöffentlichkeit. Leitmedien und politische Eliten indes befördern die soziale Gleichschaltung. Hier erscheint ein struktureller McCarthyismus, der eine „Gesinnungsdemokratie“ etabliert, in der auf Tabuthemen „nur noch mit Empörung, Hysterie, Einforderung von Buße oder Sanktionen“ reagiert wird. Jüngste Vorgänge in Berlin haben einmal mehr die totale Enthemmung und rhetorische Brutalisierung der öffentlichen Skandalmaschine bezeugt. Sie eskaliert, inflationiert und fatalisiert den Antisemitismusvorwurf, was Hoffmanns schrille Belege abstoßend schildern. Ein typisches Eskalationsprofil zeigt der „Fall Hohmann“. Er verdeutlicht, wie sehr dabei die moralische Fanfare umgekehrt und dem Beschuldigten selbst alle Gerechtigkeit entzogen wird. Der Diffamierte wurde als „Tier“ verachtet, dann zum „Nichts“ erklärt. So inflationär die sprachpolitische Raserei damit wucherte, verschleißt sich doch ihr Stigmatisierungspotential nicht. Kritiker irren, die den Kurs der heißen Münze im Fall glauben. Es geht ihr nämlich wie dem ewig kochenden Topf im Märchen. Diese elende Praxis wird noch gestützt durch die furchtbare Verdachtsausweitung: „Sekundäre“, „larvierte“, „chiffrierte“, „latente“, „strukturelle“ Antisemitismen ermöglichen alles einzuschüchtern, was je inopportun erscheint. Sage keiner, ihn werde es nicht treffen. Wenn die Süddeutsche als „Hetzblatt“ mit Stürmer und Völkischem Beobachter verglichen und die Bundeszentrale als „Hort des Antisemitismus“ diffamiert wird, endlich die Washington Post behauptet, der Antisemitismus in Europa entwickele sich zur „zweiten und finalen Phase der ‚Endlösung der Judenfrage'“, dann offenbart dies Umrisse eines Wahns, der alle konventionellen Verschwörungstheorien sprengt. Das verantwortungslos hysterische Hochschreiben des Antisemitismus geht aufs Konto einer zynischen Mediengesellschaft, wurzelt freilich zudem in handfesten Interessen. Israel ist an der Abwehr von Kritik interessiert, die jüdisch säkulare Diaspora am Zusammenhalt durch Konfrontation und innerdeutsche Eliten am Machterhalt im Generationskonflikt. Hinzu kommt der „Kampf gegen Hitler“ als mythisches Regulativ atlantischer Außenpolitik. Vor diesem Hintergrund kann es eng werden: Wie da die Rekonstruktion deutscher Identität positiv möglich sei, bleibt unersichtlich. Die wurde zur Geisel einer ausufernden Sozialpathologie. Deren inquisitorisches System versteht Hoffmann mit Kepplinger zu Recht als die „demokratische Variante von Schauprozessen“. Dazu paßt die Wut, wenn „Delinquenten“ sich „bloß distanzieren“, statt um „Vergebung zu bitten“, was der Band häufig zitiert. Der schuldtheologische Kern des Verdachtsyndroms wird hier offenbar. Christlicher Versöhnung entgegen hat man die Rechtfertigung Gott entrissen, ihn politisch zu beerben. Angesichts des Versuchs, „die Deutschen hinter einem Tabu einzumauern“, befürchtet Konrad Löw, daß wir „am Anfang einer großen Kampagne gegen die Meinungs- und Wissenschaftsfreiheit stehen“. Arne Hoffmann: Warum Hohmann geht und Friedman bleibt. Antisemitismusdebatten in Deutschland von Möllemann bis Walser. Edition Antaios, Schnellroda 2005, 302 Seiten, broschiert, 24Euro

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