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„Je freier die Wirtschaft, desto sozialer ist sie auch“

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Warum möchte man heute eine Biographie Ludwig Erhards, des ersten Wirtschaftsministers der Bundesrepublik, lesen? Zwei Gründe liegen auf der Hand. Wer war der Mann, was hat er in seiner Zeit geleistet? Und dann: Was kann uns die Beschäftigung mit seinen Ideen für die Sanierung des zum Sozialfall gewordenen deutschen „Sozialstaats“ lehren? Ein Buch über Erhard hat selbstverständlich sauber historisch gearbeitet zu sein. Aber lesen werden die meisten es vor allem gegenwartspolitisch, auf der Suche nach einen Ausweg aus der sozialpolitischen Endlosschleife der Bundesrepublik. Indem der Autor jenes erfüllt, hilft er auch bei diesem. Der Verfasser ist Amerikaner und lehrt Geschichte an der Universität North Texas. Das Buch erschien zuerst im Jahr 2004 in der University of North Carolina Press in Chapel Hill. Zu seinen Vorzügen, das sei vorweg gesagt, gehört eine kritisch kommentierte Übersicht über die wichtigste deutsche und englische Literatur zu Erhard. Leider läßt die Übersetzung in Teilen auffällig zu wünschen übrig. Der Lektor beherrscht nicht die Regeln der indirekten Rede. Auch werden einige deutsche Verbände nicht bei ihrem richtigen Namen genannt, sondern in Rückübersetzungen aus dem Englischen. Falsch ist es, den Landtag von Württemberg-Baden (das waren die nördlichen, amerikanisch besetzten Teile von Baden und Württemberg, vor der Vereinigung der drei südwestdeutschen Länder zu Baden-Württemberg) als „Landtag für die amerikanische Zone in Stuttgart“ zu bezeichnen. Falsch ist es auch, das zur Legende gewordene Ahlener Programm des Zonenausschusses der CDU der britischen Besatzungszone vom Februar 1947 ihrem Vorsitzenden Konrad Adenauer zuzuschreiben. Darin war unter maßgeblicher Beteiligung von Dominikanern des Klosters Walberberg zur Sozialisierung der Großindustrie und der großen Banken aufgerufen worden. Adenauer jedoch nahm diesen Beschluß widerwillig hin, bezeichnete ihn kühl als „nicht praktisch“ und betrieb sogleich seine Revision. Form- und Sachfehler dieser Art stören zwar, beeinträchtigen aber nicht den Gesamteindruck eines Buches, das die Biographie, das Werk und die leitenden Ideen, am Ende auch das politische Scheitern dieses Mannes anschaulich, auch kritisch darstellt. Es handelt sich um eine politische Biographie. Privates kommt wenig vor. Erhard geizte mit Persönlichem, und vermutlich sieht auch so sein Nachlaß aus. Im Unterschied zu seinen wichtigsten wissenschaftlichen Freunden Wilhelm Röpke, Alexander Rüstow, Walter Eucken, Franz Böhm, Alfred Müller-Armack und anderen Mitglieder der Freiburger Schule der Nationalökonomie kam Erhard aus kleinen Verhältnissen. Der Vater, Kind mittelfränkischer Bauern, hatte 1885 in Fürth ein Wäsche- und Aussteuergeschäft gegründet. Er war im Bismarck-Reich Anhänger von Eugen Richters Freisinniger Partei, den Linksliberalen, die den Nationalliberalen nicht in das Lager Bismarcks gefolgt waren. Unverkennbar empfing Ludwig Erhard im Elternhaus erste politische und ökonomische Orientierung: Liebe zur Freiheit und den Blick auf den Käufer im Laden, den „Verbraucher“, wie er später sagte. Dieser stand im Mittelpunkt seiner nachfrage-orientierten Wirtschaftslehre, nicht die Industrie, schon gar nicht die Großindustrie, oder ein interventionistischer „Staat“, der dann doch nur die Partikular-Interessen der jeweils stärksten politischen Lobby schützen würde. Auf die Rolle der Verbraucher auf dem „Markt“ kam es Erhard an. Schon auf dem gewöhnlichen Bauernmarkt ist seine Wirkungsweise zu beobachten: Die einzelnen Käufer entscheiden mit einem Kauf oder seiner Unterlassung, welches Produkt „geht“ und was es kosten darf, und welches Produkt nicht oder zum verlangten Preis noch nicht oder nicht mehr geht. Die Käufer geben mit lauter kleinen, aber in der Summe mächtigen Entscheidungen täglich/kontinuierlich Korrekturbefehle für die Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Der Markt weiß es genauer und geschwinder, als es die beste Planungsbehörde je wissen könnte. An der Handelshochschule in Nürnberg nach Ende des Ersten Weltkriegs hatte Ludwig Erhard, 1918 schwer verwundet aus Flandern zurückgekehrt, bei Wilhelm Rieser gelernt, „wie wichtig der Preismechanismus war; daß der Marktpreis der einzig gerechte Preis war; daß Firmen dazu da waren, Geld zu verdienen, und daß das Risiko ein wesentlicher Bestandteil war; daß Industrieorganisationen wie Kartelle dazu gedacht waren, den Wettbewerb auszuschalten.“ Es gehört zu den Merkwürdigkeiten der Biographie Erhards wie auch anderer Protagonisten marktwirtschaftlicher Ordnungspolitik, zum Beispiel Rüstow, daß sie in den zwanziger und dreißiger Jahren zunächst bei Wirtschaftsverbänden oder an Instituten arbeiteten, die einzelnen Industrien nahe standen. Erhard forschte an einem Nürnberger Institut, das im Dienst der Porzellanindustrie stand und 1925 in ein Institut für die Wirtschaftsbeobachtung deutscher Fertigwaren umgewandelt worden war – tendenziell also zur Behinderung freier Preisbildung. In der Weltwirtschaftskrise plädierte Erhard für staatliche Konjunkturförderung, allerdings nicht für direkte staatliche Aufträge an die Wirtschaft, sondern zur Anregung der Nachfrage der Verbraucher durch staatlich verbilligte (Klein-)Kredite – aber nur für die Dauer der Krise, damit man danach nicht eine Inflation gerate. Den Haushalt in Ordnung und die Währung stabil halten Die Beschäftigung mit theoretischen Fragen brachte Erhard in Verbindung mit der Freiburger Schule der Nationalökonomie, und enger dann im Kriege, als man dort in Erwartung des Kriegsendes über künftige Auswege aus der zentral gesteuerten Kriegswirtschaft, und über einen „dritten Weg“ zwischen unbeaufsichtigtem Kapitalismus und Sozialismus (auch National-Sozialismus) nachdachte. Die Verbindung zu Carl Goerdeler wurde Ludwig Erhard nach dem 20. Juli 1944 beinahe zum Verhängnis. Aber die Gestapo entdeckte die Spuren nicht. Eucken sah den „dritten Weg“ in der Wiederherstellung einer auf den Verbraucher ausgerichteten Marktwirtschaft, in der ein „starker Staat“ sich darauf beschränkt, darüber zu wachen, daß kein Marktteilnehmer den Wettbewerb behindert oder gar unterbindet, den eigenen Haushalt in Ordnung und die Währung stabil hält. Erhard stand Eucken nahe, aber er war nicht das Sprachrohr der Freiburger Schule. Mierzejewski beschreibt ihn als einen Mann, der eklektisch aufnahm, was ihm einleuchtete. Er hält ihn nicht für einen originellen Denker, sondern einen Lehrer guter Ideen, die er mit Optimismus verbreitete und von denen er meinte, sie müßten den Menschen von selbst einleuchten. An politischer Macht hatte er keinen Gefallen. Als Wirtschaftsminister in allen Kabinetten Adenauers verkannte er, feste Verbündete, eine Organisation, eine Partei zu brauchen und Parteifreunde politisch pflegen zu müssen. Er war ein Kämpfer, aber weniger in einer Partei als im „deutschen Volk“. Erst spät, in den sechziger Jahren, trat er CDU bei. Er besaß – auch als zweiter Kanzler der Bundesrepublik – keine Parteibasis, und darin lag einer der Gründe, aus denen er 1963 Intrigen in seiner eigenen Partei zum Opfer fiel. Allerdings verdankte er gerade seiner Unabhängigkeit, Unbefangenheit und wirtschaftspolitischen Unbeirrbarkeit seinen Aufstieg. Als die Amerikaner 1945 deutsche Fachleute für die neuen Wirtschaftsbehörden suchten, war Erhard völlig „unbelastet“. Er hatte sich beharrlich geweigert, der NSDAP beizutreten. Er war an keinem Unrecht des Regimes beteiligt. Er hatte auch keine politische Vergangenheit in der Weimarer Republik. An ihrem Scheitern hatte er keinen Anteil. Sein Optimismus und Sinn fürs Praktische half ihm gerade bei Amerikanern. Sein Aufstieg führte in knapp drei Jahren von einer Regionalbehörde in Nürnberg in das Amt des Direktors für Wirtschaft in der (britisch-amerikanischen) Zweizonen-, später Dreizonen-Wirtschaftsverwaltung in Frankfurt, und damit in das Zentrum des Raumes, der sich 1949 unter der Aufsicht der westlichen Alliierten als Bundesrepublik organisieren durfte. Erhard hatte ganz richtig bei den Amerikanern darauf bestanden, daß mit der Währungsreform und der Mar-shall-Hilfe zugleich auch die Preise für die meisten Waren und die Löhne dem freien Markt überlassen werden. Die Währungsreform wurde vor allem deshalb ein Erfolg, weil im selben Zug der Markt in seine Funktion eingesetzt wurde – gegen schwere Bedenken vor allem der sozialistischen britischen Regierung. Darin sei Erhards größter Erfolg zu sehen, meint sein Biograph. Die Reform von 1948 begann mit Wucht, gleichsam als Dreischlag, nicht als zaghaftes Drehen an kleinen Schräubchen. Zunächst erschien das hart. Die Preise zogen an und mit ihnen die Arbeitslosigkeit. Erhard behielt die Nerven. Ein Jahr später waren die anfänglichen Turbulenzen vorüber, es ging zügig voran. Doch danach gelang Erhard als Wirtschaftsminister nichts Gleichwertiges mehr. Der Kampf um das Anti-Kartell-Gesetz dauerte Jahre, der Bund der Deutschen Industrie unter seinem Vorsitzenden Fritz Berg wehrte sich beharrlich und hatte Adenauer dabei auf seiner Seite. Die Gewerkschaften verlangten „Mitbestimmung“ in den Unternehmensführungen, und Adenauer benutzte die steigenden Steuereinnahmen besonders vor Wahlen zu sozialpolitischen „Wohltaten“. Erhard kämpfte dagegen an, wurde aber ausgebremst: von der damaligen Führung des BDI, von den Gewerkschaften, von dem sozialpolitischen Flügel der CDU und nicht zuletzt von Adenauer selbst. Der Kohlenbergbau und der Wohnungsbau wurden massiv subventioniert. Als es darum ging, das Rentensystem zu reformieren, wurde es nicht auf das Prinzip der Kapitaldeckung umgestellt – sondern gegen Erhards Widerspruch „dynamisiert“, mit fatalen Folgen bis heute. Bis heute ist Erhards Marktwirtschaft rudimentär geblieben. Es gibt keinen freien Markt für Arbeit und Löhne, für Wohnungen, für Gesundheitsvorsorge, für Energie, für Agrarprodukte. Überall haben wir es mit Mischformen, mit regulierten Preisen, speziellen Besteuerungen oder steuerlichen Begünstigungen zu tun, mit politisch gesteuerten Mischsystemen, die wegen ihrer Fehlleistungen stets zu spät, aber immer weiter „reformiert“ oder „umgesteuert“ werden sollen, und wenn es überhaupt dazu kommt, dann meist noch tiefer in die Weiter- und Überregulierung getrieben werden. Bloß einfach abgeschafft dürfen sie nicht werden. Zur Popularität Erhards macht der Verfasser die noch heute zutreffende Bemerkung: „Die Unterstützung für die soziale Marktwirtschaft (im deutschen Volk) fußte nur auf dem Wohlstand, den sie den Menschen gebracht hatte, nicht auf einem tieferen Verständnis ihrer Grundsätze“. Das Mißtrauen der Deutschen in die Freiheit des Marktes (den „Kapitalismus“) erweist sich als so tief verwurzelt wie das Vertrauen in einen fürsorglichen Staat, heute in die Vorstellung einer „sozialen Demokratie“. Erhards Idee vonWucherung des Fürsorgestaates verstopft Die Erwartung der Wähler, „soziale Gerechtigkeit“ sei eher durch Verteilung als durch Unternehmungslust und Wettbewerb herzustellen, ist anscheinend durch keine schlechte Erfahrung mit diesem von Gruppeninteressen gelenkten, protektionistischen Sozialstaat zu erschüttern. Was Erhard 1948 aufgestoßen hatte, wurde im Laufe der Jahrzehnte Schritt für Schritt wieder verstopft durch die Wucherung des Fürsorgestaates und die Verwandlung nicht-bedürftiger, durchaus zu Selbständigkeit befähigter Bürger in „anspruchsberechtigte“ Empfänger staatlicher Subventionen aller Art. Heute erscheint nicht einmal die Einführung von Dieselrußfiltern für Autos zumutbar, wenn nicht mit staatlichen Subventionen verbunden. „Markt pur“ ist gegenwärtig zum politischen Schreckenswort, sogar zu einem moralischen Verdikt geworden. Marktwirtschaft gilt als „Soziale Kälte“, erscheint politisch allenfalls als „soziale Marktwirtschaft“ zumutbar. Fragt man, was damit gemeint ist, hört man regelmäßig, Wettbewerb ja, aber nur wenn sozial gemildert, und je mehr vom zweiten, desto besser. „Soziale Marktwirtschaft“ stellt man sich als eine Art Verschnitt zwischen Wettbewerbswirtschaft und sozialistischem Wohlfahrtsstaat vor. So aber haben es Erhard und Eucken gerade nicht gemeint. „Ich meine“, schrieb Erhard an Friedrich Hayek, „daß der Markt an sich sozial ist, nicht daß er sozial gemacht werden muß.(…) Je freier die Wirtschaft, desto sozialer ist sie auch“, und nur der Markt könne Wohlstand „gerecht verteilen“. Daß der Markt gerecht ist und „sozial“ funktioniert, wenn der Staat aufpaßt, daß der Markt nicht Gruppen anheimfällt, die seine Dynamik blockieren wollen – dieser einfache Sachverhalt ist weithin unverstanden. Hilfe für Notleidende, die sich selbst nicht helfen können, ist damit nicht ausgeschlossen. Sie bleibt nötig. Doch ergibt sich daraus kein stichhaltiger Einwand gegen die Gerechtigkeit und die „Sozialverträglichkeit“ des Marktes. Foto: Schaufensterauslage eines Textilgeschäfts mit Erhard-Porträt, Ende 1949: Bis heute ist Erhards Marktwirtschaft rudimentär geblieben Alfred C. Mierzejewski: Ludwig Erhard. Der Wegbereiter der Sozialen Marktwirtschaft. Eine Biographie. Siedler Verlag, Berlin 2005, 400 Seiten, Abbildungen, Leinen, 24 Euro Prof. Dr. Günther Gillessen arbeitete viele Jahre als außenpolitischer Redakteur für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ und leitete an der Universität Mainz. das Journalistische Seminar

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