Ein Großkritiker jubelte 1978, nach dem Erscheinen der Tagebücher Thomas Manns, danach könne man „süchtig“ werden. Auf vergleichbar ungetrübten Enthusiasmus wartete man ein Vierteljahrhundert, bis vor kurzem der erste Band der Mammutedition der Tagebücher des Grafen Harry Kessler erschien (JF 29/04). Doch fernab dieses Höhenkamms diaristischer Selbststilisierung stand zwischenzeitlich durchaus Gleichwertiges parat: Victor Klemperer natürlich, aber auch, bei weitem nicht so umfangreich, auf 450 eng bedruckten Seiten, jenes „Sittengemälde“ des Dritten Reiches, das die Tagebücher des wegen seiner Beteiligung am 20. Juli 1944 hingerichteten Diplomaten Ulrich von Hassell liefern. Damit lag 1988 die vollständige Fassung eines Zeitzeugnisses vor, das von einer Zentralfigur der Opposition gegen den Nationalsozialismus stammte. 1994 kam dann, ediert von der Enkelin Malve von Hassell, der Lebensbericht aus der Haft heraus, die vor 1933 abbrechenden Memoiren des Botschafters, die er in fliegender Hast zwischen Verhaftung und sofort vollstrecktem Todesurteil am 8. September 1944 niederschrieb. Die nun publizierten „Römischen Tagebücher und Briefe“, die den Zeitraum 1932 bis 1938 umspannen, also genau jene Jahre, in denen Hassell als Botschafter der Papen- und dann der Hitler-Regierung in der römischen Metropole des faschistischen Italiens agierte, schließen mithin eine Lücke in Hassells Lebenszeugnis. Zur Bestimmung seiner weltanschaulich-politischen Positionen bieten diese Dokumente freilich substantiell nichts, was über seine aus den Akten des Auswärtigen Amtes (AA) bekannten Lageberichte und Denkschriften hinausginge. Der deutschnationale Schwiegersohn des Großadmirals von Tirpitz sah seine Aufgabe als Diplomat darin, das Reich nach der Niederlage von 1918 wieder in den Kreis der Großmächte zurückzuführen. Die NS-Machtergreifung änderte an dieser Zielsetzung zunächst nichts, nur – aus Hassells Sicht durchaus wünschenswert – schien Hitler die Revisionspolitik der Weimarer Ära druckvoller und erfolgreicher voranzutreiben. Der Dissens ergab sich bald aus der außenpolitischen Methode. Der Einmarsch ins entmilitarisierte Rheinland 1936 etwa offenbarte eine Risikobereitschaft, die nach Hassells Überzeugung nicht zu den Usancen des internationalen Politikgeschäfts zählte. Als dann Hitlers langjähriger „Neben-Außenminister“ Joachim von Ribbentrop am AA und am römischen Botschafter vorbei die „Achse“ zu schmieden begann und damit eine gegen den Westen und die Sowjetunion gleichzeitig gerichtete Blockbildung vorantrieb, vor der Hassell stets gewarnt hatte, vertiefte sich die Kluft zwischen traditioneller Revisionspolitik des Diplomaten und Hitlers Strategie, in der die Revision von Versailles nur Mittel zur Erreichung weltpolitischer Ziele war. Die Tagebücher und die Briefe an Ilse von Hassell zeigen, wie sich diese wachsende politische Entfremdung auf gesellschaftlicher Ebene spiegelt. Die neuen Machthaber stellt Hassell als ungebildete Parvenüs vor, die ein „unerhört niedriges geistiges Niveau“ hätten , als „aufgeblasene Demagogen“ wie Robert Ley oder Protzer wie Hermann Göring, in dessen mit „ungeheuren Einkäufen“ vollgestopftem Sonderzug es ausgesehen habe wie in einem Möbelwagen. In scheinbar nebensächlichen Details markiert Hassell den Unterschied der Mentalitäten, Umgangsformen und letztlich auch den der Weltbilder: Als der Herzog von Aosta auf Görings Wohl trank, erwiderte dieser „sitzend“. Als er dann auf Hassells Wohl anstieß, stand der Botschafter „natürlich“ auf. Da habe der Herzog seiner Nachbarin zugeraunt: „Da sieht man den Unterschied: Dieser ist ein Herr und der andere nicht!“ Dieses „Herrentum“ spielte Hassell gegenüber „Parteigrößen“ ostentativ aus. Seine Gattin stand ihm darin nicht nach, galt als arrogant und wenig „volksgemeinschaftlich“. Beide ließen ihre Umgebung spüren, daß sie sich als einzig würdigen Lenker der außenpolitischen Geschicke des Reiches nur Ulrich von Hassell vorstellen konnten. Angesichts seiner mitunter realitätsfernen Lagebeurteilungen, sei es zum Machtpotential Italiens oder zur Verständigungsbereitschaft Londons, kommt darin gewiß eine gehörige Portion Selbstüberschätzung zum Ausdruck. Doch in den Briefen und Notaten dominiert der Mann, der zwar die „Formen der großen Welt“ besser beherrscht als jene verachteten Kleinbürger, die sich ihre Serviette in die Weste stopfen, sich aber nicht durch Dünkel auszeichnet, sondern durch Charme, Witz und Warmherzigkeit besticht. Allein der Einfallsreichtum, den er nach über zwanzigjähriger Ehe beweist, um seinem „Ilseken“, seiner „lebensspendenden Sonne“, seinem „Schutzengel“, dessen „Flügel mich tragen und decken“, Liebeserklärungen zu machen, nimmt entschieden für diesen Mann ein. Angesichts der Bedeutung Ilse von Hassells bleibt rätselhaft, warum der Herausgeber kein Wort über sie verliert, ja der Leser nicht einmal ihre Lebensdaten (1885-1982) erfährt. Wäre es nicht sinnvoll gewesen, den in einer Anmerkung erwähnten „Lebensbericht“ der Tirpitz-Tochter abzudrucken, den der Bayerische Hörfunk 1975 sendete? Irritierend wirkt auch, daß sie nur mit zwei Jugendfotos in Erinnerung gerufen wird, obwohl die Familienalben doch reichlich Material aus römischer Zeit enthalten dürften. Überhaupt die Bildbeigaben: Man kennt fast alles aus den Editionen von 1988 und 1994. Wenn man die Leistung des Herausgebers Ulrich Schlie würdigen will, kann man Positives nur im Vergleich mit dem worst case, der Edition Malve von Hassell konzedieren, die 1994 den Lebensbericht ihres Großvaters in dürftigster Weise kommentierte. Gemessen daran ist Schlies Edition ein Fortschritt. Wählt man einen anderen Maßstab, nämlich den der Edition „Vom anderen Deutschland“ (1988), dann handelt es sich hier um einen Unterschied wie zwischen Bundesliga und Kreisklasse. Schlies Anmerkungen, für die vielleicht auch sein auf dem Titel genannter Amanuensis Thies Schulze verantwortlich ist, beschränken sich auf Sekundanerwissen. Da die Edition – und entsprechend auch die Anmerkungen – in drei Teile gegliedert wurde, findet man biographische Minimaldaten zu vielen Personen doppelt und dreifach. Mittendrin fallen peinliche Fehler auf, etwa die Angabe zu „Horstmann“. Dieser ist, so wie Hassell das Gespräch mit ihm festhält, nur ein unbekannter Sendling des DAAD (Deutscher Akademischer Austauschdienst), der aber in der Anmerkung plötzlich zu „Alfred Horstmann“ mutiert, also zu jenem legendären arbiter elegantiarum, der sich wegen seiner „nichtarischen“ Ehefrau nach 1933 aus dem diplomatischen Dienst verabschiedete und in seinem von Hans Georg von Studnitz und „Missie“ Wassiltschikow unvergeßlich geschilderten Refugium – zuletzt am Charlottenburger Steinplatz – bis in die Tage und Nächte des angelsächsischen Bombenterrors hinein den Lebenstil der Berliner upper ten-Gesellschaft zelebrierte. Mit Hassells römischem Gesprächspartner hat er nichts zu tun. Man kann auch andere Bedenklichkeiten nicht unterdrücken, die sich gegen Schlies editorische Praxis richten, soweit sie „Rechte Dritter“ berühren. Dafür nur ein Beispiel: Hassell liefert ein vernichtendes Kurzporträt seines römischen Gesandtschaftsrats Stephan Prinz Schaumburg-Lippe und seiner „glühend“ nationalsozialistischen Gattin. In dieser Charakterisierung rutschen beide Hochadelige gnadenlos auf Kretin-Niveau herab. Man mag gegen solche indiskrete Zurschaustellung einwenden, daß die Zahl derer, die sich in diesen Kreisen auskennen, überschaubar ist. Wählt heute doch kaum jemand den „Gotha“ als Gute-Nacht-Lektüre und kann deshalb Linien bis in die Gegenwart ausziehen. Trotzdem: Zumindest wenigen ist evident, daß sich Marie Alix, die hochangesehene achtzigjährige Herzogin von Schleswig-Holstein, über eine so rufmörderische Schilderung ihrer Eltern wenig amüsiert zeigen dürfte. Die Verdienste des in Hessens Berliner Landesvertretung tätigen Editors halten sich also in engsten Grenzen, und sie werden auch nicht durch seinen resümierenden Essay über Hassell und die „Außenpolitik gegen Hitler“ aufgewertet. Denn hier fällt Schlie noch meilenweit hinter das Problembewußtsein des Hassell-Biographen Gregor Schöllgen zurück, so daß man ihm am Ende wirklich ausschließlich dafür dankbar sein kann, daß er uns mit 250 der Lektüre nachdrücklich zu empfehlenden Seiten aus der Feder des bewunderungswürdigen Diplomaten, Causeurs, Menschengestalters und Grandseigneurs Ulrich von Hassell beschenkt. Ungeachtet des weitgehend überflüssigen editorischen Beiwerks hat man also im Falle Hassell sein Geld sinnvoll investiert. Ob die jüngste Biographie des fast gleichzeitig mit dem Botschafter hingerichteten Nachwuchs-Diplomaten Adam von Trott zu Solz ihren klingenden Gegenwert lohnt, erscheint indes fraglicher. Über Trott, den Sohn des Kultusministers der preußischen Monarchie, den Völkerrechtler und Hegelianer mit familiären und freundschaftlichen Kontakten zur angelsächsischen Führungsschicht, der sich bis ultimo, also bis Juli 1944, im Namen der Anti-Hitler-Opposition erfolglos um ein agreement mit den West-Alliierten bemühte, über diesen reiselustigen, kosmopolitischen egg head-Typus, der in Washington und London als „Nazi“ verdächtigt wurde, liegen nicht weniger als drei gewichtige Biographien vor. Die der beiden Zeithistoriker Christopher Sykes (1969) und Henry O. Malone (1986) sowie, materialreich, einfühlsam und keineswegs schwarz-weiß malend, also nicht „hagiographisch“, die ausgezeichnete Darstellung seiner Witwe, Clarita von Trott zu Solz (1994). Hinzu kommen mehrere Spezialstudien, die Trotts Rolle im Rahmen der „Westkontakte“ des Widerstands untersuchen. Eine neue Biographie ließe sich also nur rechtfertigen, wenn unbekannte Quellen zur Verfügung stünden. Das ist aber nicht der Fall. Folglich konnte Henric L. Wuermeling, langjähriger Redakteur für Zeitgeschichte beim Bayerischen Rundfunk, aus drei Biographien lediglich eine vierte zusammenschreiben. Genau das ist geschehen, wobei fatalerweise eine Reihe von Aspekten, die man eher den selbst von der Witwe nicht zur Gänze umschifften „Grauzonen“ der Trottschen Aktivitäten zuordnen würde, fortgefallen sind und ein anachronistisch wirkendes „heroisches“ Lebensbild entstanden ist. Ein arg verkürzter Trott, der in Wuermelings „süffiger“ Schreibweise für den Leser bestenfalls als Appetitanreger wirken mag, um auf die solideren älteren Biographien umzusteigen. Foto: Ulrich von Hassell (r.) mit dem italienischen und dem deutschen Außenminister Galeazzo Ciano (M.) und Konstantin von Neurath: Unterschied der Mentalitäten, Umgangsformen und auch der Weltbilder / Adam von Trott zu Solz Ulrich Schlie (Hrsg.): Ulrich von Hassell: Römische Tagebücher und Briefe 1932-1938. Herbig Verlag, München 2004, 384 Seiten, Abbildungen, 34,90 Euro Henric L. Wuermeling: „Doppelspiel“. Adam von Trott zu Solz im Widerstand gegen Hitler. DVA, München 2004, 237 Seiten, 19,90 Euro