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Kampf der Erinnerungen

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Wer rausgeht, muß auch wieder reinkommen!“, rief der legendäre SPD-Fraktionschef Herbert Wehner den Abgeordneten von CDU/CSU nach, als diese während seiner Rede den Plenarsaal des Bundestags verließen. Er machte der damaligen Opposition klar, daß sie nur die eigene Sprachlosigkeit demonstrierte. Dieser Satz könnte auch auf Salomon Korn zurückfallen, der die Eröffnungsveranstaltung der Leipziger Buchmesse während der Rede der früheren lettischen Außenministerin und designierten EU-Kommissarin Sandra Kalniete verließ. Es gibt allerdings den Unterschied, daß der Vizepräsident des Zentralrats der Juden in Deutschland aus einer Position der Stärke agierte. In der Sache nahm er Anstoß an Kalnietes Aussage, nur wenige Menschen im Westen hätten nach 1945 die Kraft gehabt, der Tatsache ins Auge zu sehen, daß „das sowjetische Regime die Verfolgung und Vernichtung der Völker Osteuropas und auch des eigenen fortsetzte“. Sie benutzte in diesem Zusammenhang den Begriff „Genozid“ – Völkermord. Diesen will Korn für die NS-Untaten reserviert wissen. Der stalinistische Terror gegen die baltischen Völker dagegen sei eine Folge der Kollaboration vieler Balten mit dem Nationalsozialismus gewesen. In der Leipziger Volkszeitung behauptete er, Frau Kalniete habe „die Vergangenheit ihres eigenen Volkes nicht aufgearbeitet“. Das ist exakt die Sprache der deutschen Vergangenheitspolitik, die seit Jahren im eigenen Saft schmort und sich auch vom Mauerfall unbeeindruckt zeigt. Die FAZ, statt Korns abenteuerliche Geschichtslektion in die Schranken zu weisen, sprang ihm bei und sprach von der „groben Unschuld aus dem Osten“. Der Vergleich Frau Kalnietes sei falsch, denn der Stalinismus, „obgleich mörderisch, (sei) nicht rassistisch motiviert“ gewesen. Ja, wer in Sachen Deportation und Massenmord den Feinsinn der FAZ hätte! Die wohlwollende Reaktion des führenden bürgerlichen Blattes zeigt, daß Korns Reaktion nach innen und außen als eine Machtdemonstration des vergangenheitspolitischen Status quo gedacht war und auch so verstanden wurde. Frau Kalniete wurde 1952 in Sibirien geboren, wohin ihre Familie 1941 verschleppt worden war. Erst 1957, in der sowjetischen „Tauwetterperiode“, durfte sie nach Lettland zurückkehren. Zahlreiche Verwandte, darunter ihre Großeltern, hatten den russischen GULag nicht überlebt. Korns Äußerungen zeugen von Ignoranz und Arroganz, um zwei sehr milde Ausdrücke zu benutzen. Wieder kann man nur konstatieren, daß Hannah Arendts verzweifelte Hoffnung, das eigene Leiden würde sensibler machen für das Leiden anderer, ein frommer Wunschtraum bleibt. Es ist unhistorisch, Stalin dem Sinn nach als eine Zuchtrute ausgleichender historischer Gerechtigkeit hinzustellen. Nach dem Hitler-Stalin-Pakt vom August 1939 waren die drei baltischen Länder faktisch vogelfrei, im Sommer 1940 wurden sie von der Sowjetunion besetzt. Gleich danach begann die Deportation zehntausender „antisowjetischer Elemente“, womit zunächst die politische, wirtschaftliche und kulturelle Elite gemeint war. Der lettische Präsident Karlis Ulmanis gehörte zu den ersten Opfern, er starb 1942. Kann man da nicht verstehen, daß die Balten die Deutschen zunächst als Befreier vom stalinistischen Joch begrüßten? Ein tödlicher Irrtum, wie man weiß. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten zwei weitere Deportationswellen, lettische Kulturdenkmäler wurden zerstört, eine konsequente Russifizierung brach über das Land herein. 1947 befanden sich 134.000 Letten als politische Flüchtlinge in Westeuropa. Unter den 2,6 Millionen Bewohnern Lettlands bilden die Letten heute nur noch eine knappe Mehrheit. Die Frage, ob dies der UN-Definition eines „Genozids“ entspricht, ist da wohl diskutabel. Im letzten Kapitel seines Buches „Verführtes Denken“ (1953) klagte der polnische Literaturnobelpreisträger Czeslaw Milosz die Gleichgültigkeit und die „Dummheit“ an, mit denen der Westen die stalinistischen Verbrechen an den kleinen baltischen Völkern quittierte. Eine Einsicht, die wehtut und gegen die der Westen sich sperrt. Die dümmliche, posthitleristische Geschichtsscholastik in Deutschland hat angesichts der europäischen Perspektiven zwei Alternativen: die Selbstrevision oder den Export. Es gibt inner- und außerhalb Europas starke Kräfte, die auf die zweite Möglichkeit setzen. „Wie es war, als es am Hakenkreuz hing, das wählt sich Europa als seinen einzigen zukunftsfähigen Mythos“, schrieb Sven K. Knebel in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift Etappe. Nicht alles, was in dieser Richtung geschehen ist, entbehrt der Berechtigung. So hat Jacques Chi-rac klargestellt, daß die Selbststilisierung der Franzosen als ein einig Volk von Résistance-Kämpfern von der Wirklichkeit nicht gedeckt wird. In Italien hat die Alleanza Nationale von Gianfranco Fini die Einführung der Rassegesetze in Italien 1938 als eine unauslöschliche Schande bezeichnet – was der Partei zur Ehre gereicht. Und man kann auch nicht einfach als Alarmismus abtun, was über den alten Antisemitismus in Ost- und den neuen in Westeuropa gesagt wird. Aber warum sollten etwa Großbritannien, Schweden oder Spanien bereit sein, die deutschen Bußexerzitien in ihr eigenes Selbstverständnis zu integrieren? Wenn das die geistige und kulturelle Grundlage Europas sein soll, kann man das EU-Projekt schon jetzt als gestorben ansehen! Noch absurder wird diese Gedenkpolitik durch den Beitritt der mittelosteuropäischen Länder. Der Osten hat dem Westen die Erfahrung des Stalinismus voraus. Das ist eine nüchterne Tatsache. Der Westen muß akzeptieren, daß dieser Erfahrungsvorsprung sich nicht so einfach in seinen gepflegten Schrebergarten integrieren läßt. „Auschwitz“ ist ungeeignet, die Verbrechen Stalins zu erfassen und zu erklären. Wenn Deutschland und Westeuropa auch nur den Anschein einer Erziehungsdiktatur und eines gedenkpolitischen Imperialismus vermeiden wollen, werden sie ihr Paradigma aufsprengen müssen. Nicht nur die osteuropäischen Völker sind durch das Wunder von 1989/90 erlöst worden. Auch der Westen hat die Chance erhalten, sich aus seiner selbstverschuldeten Dummheit zu befreien. „Wer rausgeht, muß auch wieder reinkommen!“ Denn historische Wahrheiten lassen sich nicht von außen dekretieren. Debattenbeiträge werden weniger an ihrem emotionalen, dafür wieder stärker an ihrem historischen und intellektuellen Erkenntniswert gemessen werden. Salomon Korn ist herzlich dazu eingeladen. Sonst wird sich, was als Machtdemonstration gedacht war, als eine Geste der Ohnmacht erweisen. Sandra Kalniete auf der Leipziger Buchmesse, Salomon Korn in der Leipziger Synagoge: Machtdemonstration oder Geste der Ohnmacht?

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