Im Kulturbetrieb der späten sechziger und frühen siebziger Jahre gab es nur eine Handvoll Intellektueller, die sich gegenüber den Verlockungen der sogenannten „Studentenrevolte“ geistig immun zeigten. Peter Rühmkorf zählte nicht zu ihnen, und daß er dies in seinen „Tagebüchern 1971-1972“ zugibt, ehrt ihn. Rühmkorfs Sympathie mit der 68er-Bewegung macht jedoch schon recht bald einer Distanzierung Platz, als er spürt, daß hier „besserer Bürger Kinder ihren Scherz mit geschätzten Konsumwerten spielten“. Als schließlich die RAF darangeht, „die bundesdeutsche Linke zu einem Schreckgespenst umzuspiegeln“, und anläßlich des Nixon-Mao-Treffens „unsere Hausmacher-Maoisten hilflos, haltlos, orientierungslos in ihren roten Mao-Bibeln blättern“, kommt angesichts dieser ideologischen Verwirrung gar „ein gewisses grimmiges Vergnügen“ auf. Im Juni 1972 werden Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe nach einem Feuergefecht mit der Polizei in Frankfurt festgenommen, und trotz „gewisser Spurenelemente eines genossenschaftlichen Rührens“ überwiegt auch hier die Kritik an den „Allmachtsphantasmagorien der Cangaceirotruppe“. Wenig Freude macht es, Rühmkorfs Einlassungen über konservative Publizisten und Politiker zu lesen. Was er über Herbert Kremp, Matthias Walden oder Franz Josef Strauß schreibt, ist von jener hundsföttischen Art, die im linken Literaturbetrieb bis heute gepflegt wird. Relativiert werden diese Verkrampfungen jedoch durch die positiven Beschreibungen Ernst Niekischs, Richard Scheringers und A. Paul Webers. Wenngleich die Ereignisse, die 1967/68 ihren Anfang nahmen, gewiß keine Revolution im klassischen Sinne darstellten, waren sie doch ein Zivilisationsbruch ohnegleichen. Die Kommune II machte Adorno unmißverständlich klar: Man wolle „nur noch den Worten des großen Vorsitzenden Mao, den Parolen der Revolution lauschen. Und wir machen die Revolution in allen Bereichen der Gesellschaft“. Daß dies keine leere Drohung war, belegt der Roman „Das bleiche Herz der Revolution“, in dem aus der Sicht der Tochter eines 68er-Pärchens die Schrecken der „antiautoritären Erziehung“ geschildert werden. Sophie Dannenberg beschreibt die Autorin ( die taz und diverse andere Medien halten allerdings den Ex-Pop-Literaten Joachim Blessing für den Autor und den Namen für ein Pseudonym) das Schicksal der Kitty Caspari, Tochter des RAF-Anwalts Borsalino von Baguette – ein Schelm, wer hier an Klaus Croissant denkt -, die auf Befehl ihrer fortschrittlichen Eltern am Experiment der „freien Sexualität“ teilzunehmen muß. Als man sie zwingt, dem elterlichen Geschlechtsverkehr zuzusehen, kotzt sie vor Ekel neben das kopulierende Paar. In einer anderen Szene wird der Besuch in einer befreundeten Kommune beschrieben, in der auch „vom kapitalistischen System verrückt gemachte“ Terroristen des Sozialistischen Patientenkollektivs ein- und ausgehen. Hier erlebt sie, wie einer der Kommunarden sein Töchterchen nötigt, sich vor den Anwesenden zu entblößen: „Du stehst jetzt auf und zeigst uns allen dein prüdes kleines Fötzchen und deinen bürgerlichen Arsch.“ Wem derlei zugespitzt oder unglaubwürdig vorkommt, der möge einmal in Periodika jener Zeit (z.B. Kursbuch 17 und 37) blättern. Was dort von „Roten Kollektiven“ und anderen „Opfern des Kapitalismus“ unter der Parole „Jenseits der Familie“ an mit krimineller Energie aufgeladenen sexuellen Wahnideen, die heute den Kinderschutzbund, die Justiz und die Psychiater auf den Plan rufen würden, publiziert wurde, belegt Dannenbergs Erinnerungen an jene antiautoritäre Hölle, aus der es für sie scheinbar kein Entrinnen gab, voll und ganz. Zurück zu Adorno. Der heißt im Buch Aaron von Wisent und ist das erste Opfer der Studenten. Ihr Haß auf seine Brillanz, vor allem aber die Weigerung, ihren infantil-gewalttätigen Aktionen seinen Segen zu geben, führt schließlich zu seiner Vernichtung. Im Hörsaal fliegt ein Molotow-Cocktail, der Professor verbrennt, und der intrigante Assistent (na, wer wohl?) tritt an seine Stelle, womit Dannenberg wieder in der Realität angekommen ist. In einem Interview bekennt die Autorin, als Kind aus vollem Hals gesungen zu haben: „Die Internationale bekämpft das Menschenrecht!“ Erst viel später habe sie kapiert, daß sie mit dieser Version richtig lag. Kittys Großvater, der auf der Flucht aus Ostpreußen zusehen muß, wie seine Frau von Rotarmisten vergewaltigt wird, läßt die Autorin über seine Kinder sagen: „So wie ich Eltern und Großeltern habe, so habe ich keine Kinder. Meine Kinder sind nicht meine Erben. Sie führen nicht fort. Sie sind fortschrittliche Menschen, stolze Besitzer eines selektiven Gedächtnisses, ohne Neugier, ohne Mitleid, ganz und gar gnadenlos.“ So nahe ist bisher noch niemand der Wahrheit gekommen. Peter Rühmkorf: Tabu II. Tagebücher 1971-1972. Rowohlt Verlag, Reinbek 2004, 399 Seiten, gebunden, 22,90 Euro Sophie Danneberg: Das bleiche Herz der Revolution. Deutsche Verlagsanstalt, München 2004, 302 Seiten, gebunden, 19,90 Euro