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Die Natur vergißt den Menschen

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Was ist „Naturlyrik“? In vielen Nachschlagewerken suchen wir den Begriff vergebens. Und auch die bisherige Forschungsliteratur bietet über das Aufzeigen von Verbindungslinien zwischen einzelnen Lyrikern sowie epochenspezifischen Merkmalen hinaus keine Definition einer literarischen Gattung, die entweder stillschweigend vorausgesetzt oder problematisiert wird, ohne je gegeben worden zu sein. Doch sollen wir uns von Naturlyrik überhaupt einen Begriff machen? Die Germanistin Vera Dindoyal meint, ja: Der Begriff „ist von größter heuristischer Bedeutung, um aufzudecken, zu welcher Zeit die Naturmotive in Kombination mit welchen anderen Motiven auftauchen, und unter welchen Umständen sie nur auf sich selbst verweisen. Die innerhalb einer Epoche und sogar bei ein und demselben Dichter wechselnden Arten, mit der Natur im Gedicht umzugehen, dienen als wichtiger Erkenntnisschlüssel zum Aufzeigen unterschiedlicher Mentalitäts- und Bewußtseinsstrukturen, als Seismograph für das Verhältnis von Gesellschaft und Natur.“ Aus der Lyrik Schachts will Dindoyal die Erkenntnisse gewinnen, anhand derer sich eine praktikable Definition aufstellen ließe. Die Buchausgabe ihrer Dissertation, mit der Dindoyal an der Passauer Universität promoviert hat, ist die erste Monographie über das Werk Ulrich Schachts, und sie ist Dindoyals Beitrag zur „Naturlyrik“-Debatte. Seit Ulrich Schacht Gedichte schreibt, schreibt er auch Gedichte, die Natur als Thema haben. Beginnend mit einem Wanderlied des Zwölfjährigen, der Mutter in die Maschine diktiert, über hektographierte Gedichte des Neunzehnjährigen, 1970 vom Evangelischen Stadtjugendpfarramt veröffentlicht, die Zyklen der achtziger und neunziger Jahre bis hin zu jüngster „Eismeer“-Lyrik macht sich der Lyriker sein Bild und seinen Begriff von Natur. Ulrich Schacht wird 1951 im Frauengefängnis Hoheneck (Stollberg/Sachsen) geboren, wo seine Mutter bis 1954 wegen „Verleitung zum Landeshochverrat“ einsitzt. Die Deutsche hatte mit einem sowjetischen Offizier, Ulrichs Vater, in den Westen Deutschlands fliehen wollen, um ihn dort heiraten zu können. Der junge Schacht engagiert sich in der evangelischen Gemeinde, nach der Niederschlagung des „Prager Frühlings“ in der „Arbeitsgemeinschaft kritische Gemeinde“. Wegen seiner oppositionellen Tätigkeit, insbesondere seiner schriftstellerischen Arbeiten, 1973 verhaftet und zu sieben Jahren Gefängnis verurteilt, darf er 1976 in die Bundesrepublik Deutschland ausreisen: Schacht erhält die Freiheit um den Preis der Heimat. In Hamburg setzt Schacht sein in der DDR abgebrochenes Studium fort, tritt 1976 der SPD bei, die er 1992 wieder verläßt und leitet ab 1987 das Ressort Kulturpolitik der Welt am Sonntag. Sein erster Lyrikband „Traumgefahr“ von 1981 macht Ulrich Schacht weithin bekannt, es folgen Lyrik, Prosa, Essays, es folgen Preise und Stipendien. Als der Zusammenbruch des Staatssozialismus die ersehnte deutsche Einheit endlich möglich macht, da wird ein deutscher Neuanfang, die innere deutsche Einheit, von den Politikern leichtfertig verspielt. Doch soll Ulrich Schachts verstärkte Hinwendung zur Naturlyrik nicht vorschnell dem romantischen Klischee eines „Naturlyrikers“ auf der Suche nach Orplid subsumiert werden. Demnach hätte sich ein von der Nachwende-Politik enttäuschter Dichter, überdrüssig der Anfeindungen, welchen er sich als Mitherausgeber der Aufsatzsammlung „Die selbstbewußte Nation“ (1994) ausgesetzt sah, 1998 vor dem Brausen der geschäftigen Welt nach Schweden zurückgezogen und nun das Leben auf dem Lande – und zu Wasser – als Inspirationsquelle für sich entdeckt. In Schachts Naturgedichten kehren „Themenkreise“ wie persönliche Vorbilder und politisches Engagement, je unterschiedlich gewichtet, ständig wieder. Das macht sie, schreibt Dindoyal, zu „Trägern politischer Botschaften von höchster Brisanz“. Die wirkliche – und wenn man so will: politische – Brisanz jedoch liegt in den Wirkungsstrategien, welche der Dichter verfolgt, um dem Schwinden des Wahrheitsgehalts von Naturlyrik zu begegnen. Und die zeigt Dindoyal in Einzelinterpretationen detailliert auf, für die sie aus den Bänden „Traumgefahr“ (1981), „Scherbenspur“ (1983), „Dänemark-Gedichte“ (1986) und „Lanzen im Eis“ (1990) je drei repräsentative Gedichte ausgewählt hat. Doch um da hinzukommen, muß sich der Leser erst einmal durch eine systematische und eine thematische „Betrachtung der Rolle der Natur in der Lyrik“ gelesen haben. Diesen Betrachtungen legt Dindoyal einen sonderbar statischen und in sich widersprüchlichen Naturbegriff zugrunde. Um über Natur nachdenken zu können, muß der Mensch selbstverständlich aus der Natur heraus- und in die Geschichte eingetreten sein. Doch steht der Mensch damit keineswegs außer der Natur, wie Dindoyal vermeint, sondern mitten in ihr, gehört ihr mit Fleisch und Blut und Hirn an. Anstatt in Nietzsches Aphorismus „Wir sprechen von Natur und vergessen uns dabei: wir selber sind Natur, quand même“ die uneingelöste Sehnsucht nach einem urwüchsigen Zustand vor der Menschwerdung hineinzulesen, wäre mit seiner Hilfe ein Begriff von Natur zu entwerfen, der den ungelösten Widerspruch zwischen Geist und Materie, Mensch und Natur, Seele und Leib in sich austrüge. Natur ist nicht, sondern wird und vergeht. Wie überhaupt könnte Natur in der Lyrik „reden“, wenn der Lyriker, durch den sie ja redet und der ja unbestritten Mensch ist, nicht selbst auch Natur wäre? Die Natur ist nicht lyrisch, Naturlyrik handelt von der Natur des Menschen. Fungiert Natur in Schachts frühen Gedichten als „Mystische Landschaft“, innerhalb und außerhalb, Abbild und Gegenbild zu menschlicher Zivilisation wie – insbesondere hinsichtlich der deutsch-deutschen Grenze – Unzivilisation, so wird sie in späteren Gedichten „nicht nur be-schrieben, sondern sie ist dem Gedicht untrennbar ein-geschrieben“. In den Gedichten, die das erste Kapitel „Die einfache Formel“ der noch unveröffentlichten Sammlung „Der Tod ist eine reine Erfindung der Augen“ bilden, sucht Schacht Landschaft selbst zu Sprache kommen zu lassen und wagt das Gedicht als „Entwurf ohne mich“. Den äußeren Anlaß gaben drei in den Jahren 1989, 1991 und 1992 unternommene Reisen ins Nordmeer; in seinem Tagebuch „Von Spitzbergen nach Franz-Joseph-Land. Am kalten Rand der Erde“ hat er von diesen ästhetischen Expeditionen in der Nachfolge Alfred Anderschs berichtet. Dieser folgerechte Schaffensweg läßt sich auch als Emanzipation von den Vorbildern Peter Huchel und Johannes Bobrowski beschreiben, vertriebene Dichter auch sie. Der eine, Huchel, Jahrgang 1903, aufgewachsen in märkischer Landschaft, muß 1962 als Chefredakteur der Zeitschrift Sinn und Form zurücktreten, die er seit 1949 zu einer der wichtigen europäischen Literaturzeitschriften gemacht hatte. Bis zu seiner Ausreise 1971 lebt Huchel in seinem Haus in Wilhelmshorst bei Potsdam, permanent durch die Staatssicherheit überwacht, von 1972 bis zu seinem Tod 1981 lebt er als freier Schriftsteller in Staufen bei Freiburg im Breisgau. Der andere, Bobrowski, 1917 im ostpreußischen Tilsit geboren und aufgewachsen, besucht das Gymnasium in Königsberg, studiert in Berlin, kommt zum Arbeitsdienst, 1939 an die Ostfront und 1945 in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1949 entlassen wird. Bobrowski wird Lektor, später Cheflektor des Union-Verlags der CDU, in die er 1960 eintritt. Als Dichter von Huchel gefördert, verrät er den Förderer, ein Opportunist im Leben – nicht im Schreiben. Bobrowski stirbt 1965. Das Land von Weichsel bis zur Wolga und zum Kaspischen Meer, von den Römern „Sarmatia“ genannt, ruft der „Umsiedler“ – so die in der DDR gängige Sprachregelung für Vertriebene – als Sarmatien, die verlorene Landschaft seiner Kindheit herauf. Sein Dichten soll „ein (unsichtbarer, vielleicht ganz nutzloser) Beitrag sein zur Tilgung einer unübersehbaren historischen Schuld meines Volkes, begangen eben an den Völkern des Ostens.“ Wie Schacht die literarische Tradition des Naturgedichts aufnimmt und weiterführt, in der die beiden Älteren stehen, zeigt Dindoyal anhand der „Winterbilder“, „Heimatbilder“ und „Naturzeichen“ in den Gedichten wie auch an den je unterschiedlichen Versuchen der drei Dichter, ein „Gespräch über Bäume“ zu führen, in finsteren Zeiten Naturlyrik zu schreiben. Schacht radikalisiere Bobrowskis Absicht, die Dinge nicht nur „Immer zu benennen“ – so der Titel eines Gedichts Bobrowskis -, er ziele nicht auf Transformation von Natur in Sprache, sondern auf Naturwerdung des Wortes, letztlich auf die Identität von Naturgegenstand und Wort, Zeichen und Bezeichnetem: „Hat dichterische Sprache dieses Niveau erreicht, kann danach nur noch ‚Schweigen‘ folgen.“ Ist der Preis des dem Schweigen abgerungenen Wortes – Schweigen? Oder ist Stille der Lohn? Will der Vermittler im Gedicht verschwinden und soll das Gedicht selbst Natur werden, um eine Schuld gegenüber der Natur einzulösen, die darin bestünde, die Unschuldige, die Geschichtslose in seine schuldbehaftete Geschichte hinübergenommen zu haben? Um den protestantischen Glutkern der Eismeer-Gedichte freizulegen, wären freilich deren biographische Momente technisch zu lokalisieren, im „Entwurf ohne mich“ die nie aufgegebene „Mystische Landschaft“ wiederzufinden. Der dichterische Text, der die Autonomie der Natur zum Ausdruck bringen will, zerstört sie um so mehr, je näher er seinem Ziel kommt. Es träumt sich nicht mehr recht von der blauen Blume und vom blauen Eisblock auch nicht mehr. In Benjamins Geschichts-Thesen heißt es: „Zu dem korrumpierten Begriff von Arbeit gehört als sein Komplement die Natur, welche, wie Dietzgen sich ausgedrückt hat, ‚gratis da ist‘.“ Damit nun Natur dem Leser als unvermittelte, als autonomes Subjekt, das nicht gratis zu haben ist, entgegentreten kann, bedarf es höchster Vermittlung des Vermittlers, der unkorrumpierten Arbeit des Dichters am Gedicht. Wo Wort und Ding zur Deckung gekommen scheinen, da ist in Wahrheit das Ding Pappkulisse oder aus den Worten getilgt – im vollkommenen Naturgedicht käme Natur nicht mehr vor. Allein schon mit den Ortsangaben und Breitengraden in den Titeln hat Ulrich Schacht den Eismeer-Gedichten seine Vermittlerrolle eingeschrieben, sie markieren den Standpunkt des Dichters, und sie stellen das außer der Zeit Beschriebene in die Zeit. Wer sich an die Orte aufmachte, die Schacht beschrieben hat, der wird sie nicht mehr vorfinden. Aber er wird das Erschriebene zu anderer Zeit an anderen Orten vorfinden. Die große Leistung dieser Studie über das lyrische Werk Ulrich Schachts besteht darin, den Aporien seines Schreibens nicht auszuweichen. Es liegt wohl in der Natur der Sache begründet, daß Dindoyal für ihren „neuartigen Entwurf des Konzepts ‚Naturlyrik'“ auf Hans Mayers Vorschlag von 1973 zurückgreifen muß, man solle von Naturlyrik nicht als von einer „thematischen Beschränkung – einer Art Mangelkrankheit gewissermaßen – sprechen, sondern sie endlich als das erkennen, was sie ist: eine lyrische Technik, die sich mit den verschiedensten Themen, Absichten und Haltungen verbinden läßt.“ Es liegt wohl in Dindoyals vordialektischen Naturbegriff begründet, daß sie im Nachvollzug und in der Übernahme von Schachts subjektiven Intentionen aus seinen Gedichten nur das herausliest, was er in sie hineingeschrieben hat. Subjektive und objektive Intention hat bisher nur einer zur Deckung bringen können – und das auch nur für ganze sieben Tage, den Ruhetag eingeschlossen. Bei C. W. Aigner, der auch ein großer Naturlyriker ist, steht zu lesen: „Gedichte wollen gar nichts ’sagen‘. Sie sind.“ Einmal in der Welt, treten sie dem Leser, und sei es ihr Dichter, als „freie Wesen“ gegenüber. Sie sind alles, was sich jener wünscht zu sein. Daher sein Erschrecken. Sie gehören niemandem, wie der Todesstreifen an der innerdeutschen Grenze niemandem gehörte. Besitz ist Unnatur, Kunst Freiheit von Besitz. „In Niemandes Land sprießt das Gras.“ So steht es bei Ulrich Schacht. Solange es Dichter gibt, hat die Natur ihr letztes Wort nicht gesprochen. Vera Dindoyal: „Mystische Landschaft“ oder „Entwurf ohne mich“? Die Rolle der Natur in der Lyrik Ulrich Schachts, Studium Litterarum. Studien und Texte zur deutschen Literaturgeschichte, hrsg. von Knut Kiesang und Hans-Gert Roloff, Band 6, Weidler Buchverlag Berlin 2003, Broschur, 275 Seiten, 35 Euro Ulrich Schacht: Die Treppe ins Meer. Schweden-Gedichte. Edition Toni Pongratz, Hauzenberg 2003, 48 Seiten, 10 Euro; ders.: Lanzen im Eis. Gedichte. DVA, Stuttgart 1990 (vergriffen) Inseln Alger und Mathilde, Aberdare-Kanal, Franz-Josef-Land, russische Arktis (1993): Gedichte „sind“ Ulrich Schacht: Im vollkommenen Naturgedicht käme Natur nicht vor Magdalenefjorden: Ist der Preis des dem Schweigen abgerungenen Wortes – Schweigen? Oder ist Stille der Lohn?

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