Anfang 1979 flüchtete ein Offizier des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in die BRD. Im Gepäck hatte er zwei Koffer geheimer, hochinformativer Unterlagen, die zur Enttarnung zahlreicher Westagenten der Staatssicherheit führten – und zur Verhaftung von MfS-Major Karl-Heinz Glocke, tätig in den Rheinisch-Westfälischen Elektrizitätswerken. Werner Stillers Übertritt hatte verheerende Folgen für viele Menschen, vor allem für deren Kinder. Über Nacht waren sie ihrer Väter beraubt, fühlten sich getäuscht und verlassen und mußten sich schließlich der Lüge und dem Schweigen beugen. Über zwei Jahrzehnte später versucht Nicole Glocke, West-Tochter, sich mit den Motiven ihres Vaters auseinanderzusetzen – erfolglos, denn dieser schweigt zäh, und Akten über ihn sind nicht zugänglich. Ihre Recherchen richten sich deshalb zunehmend auf den Mann, der das Trauma ihrer Kindheit ausgelöst hat, Werner Stiller alias Peter Fischer. Sie sucht die Begegnung mit ihm und seiner Tochter Edina, die Stiller mit seiner Familie in der DDR zurückgelassen hatte. Die rasch wachsende Vertrautheit zwischen den etwa gleichaltrigen Frauen führt sie zurück in ihre Vergangenheit, in der sie schwere Verluste erlitten und sich ohnmächtig bemühten, die Beweggründe ihrer Väter zu verstehen. Für beide Frauen hat sich zur gleichen Zeit das Leben geändert. Trotzdem sind sie einander nie vorher begegnet. Erst als die Historikerin Nicole Glocke eine Arbeit in Berlin beginnt, stößt sie Schritt für Schritt in die Welt vor, für die ihr Vater sogar zum Spion, zum Verräter wurde. Ihre Neugier, vor allem auf den DDR-Gegenspieler Werner Stiller, wächst im selben Maß wie ihre Wut auf ein System, das Menschen zu Schnüfflern werden ließ. Für Sozialismus, soziale Gerechtigkeit und den Kampf für den Weltfrieden übten beide Männer Verrat. Der aus dem Osten gleich zweimal, weil ihm letztlich das materiell bessere Leben im Westen und die Freiheit doch besser gefielen, der andere aus Idealismus, denn Freiheit und Wohlstand, das hatte und kannte er. Für Nicole Glocke jedoch kein Grund, nicht weiter zu recherchieren, vor allem nach dem Mann, den sie nie verstehen wird und für den sie wie für ihren eigenen Vater nur noch Verachtung übrig hat. Ihrer beider Erfahrungen sind zugleich zwei ungewöhnliche Lebensgeschichten aus dem geteilten Deutschland. „Verratene Kinder“ – das sind Nicole Glocke und Edina Stiller, grundverschiedene junge Frauen, unterschiedlich sozialisiert und veranlagt. Abwechselnd schildern sie aus ihrer Zeit nach dem 18. Januar 1979. Edina, ganz im Stile des sozialistischen Ideals erzogen, das nicht einmal ins Wanken kommt, als ihr über alles geliebter Vater sie, den Bruder und die Mutter, die DDR, ihrer aller Heimat, verließ. Auch danach ging alles seinen „sozialistischen Gang“: von den Jungpionieren zur FDJ, später sogar noch nach dem Mauerfall in die Nationale Volksarmee. Der Leser erfährt noch einmal, worin die soziale Sicherheit in der DDR wirklich bestand, nämlich auch in der „Sorgfaltspflicht der Stasi“ für die Rumpffamilie – immerhin werden noch weitere Freunde der Mutter und auch deren späterer Mann, Edinas Stiefvater, von der „Firma“ ausgesucht. Die soziale Sicherheit in der DDR bestand vor allem in dieser „Sicherheit“. Alles andere sind Legenden. Nicole Glocke ist es zu danken, daß das Thema einmal von der Seite der Betroffenen betrachtet wird – um so mehr, da sich mehr und mehr Verklärung in den Erinnerungslücken breit macht: statt Aufarbeitung von persönlichen Biographien nur noch der verharmlosende und humorvolle Fingerzeig auf Spreewälder Gurken und den Geschmack von Rondo-Kaffee. Nein, es war nicht alles schlecht, aber so richtig gefallen hat es auch keinem, sonst hätte es damals im Herbst 1989 kaum Demonstrationen gegeben: gegen Staatsbürgerkunde, Pflichtpräsenz am 1. Mai, Bespitzelung und mangelhaftes Obstangebot, einen Reiseatlas im Streichholzschachtelformat und Meinungsdiktat. Die DDR war kein normales Land. Und wer das im Westen gedacht hatte, mußte auch starken Bewußtstrübungen erlegen sein. Nicole Glockes Vater zum Beispielverriet aus Überzeugung, für die beste Sache der Welt – den Sozialismus – zu arbeiten, nicht nur die Bundesrepublik, sondern auch Frau und Kinder. Warum, fragt man sich heute, hat er sich nicht einfach einmal umgesehen in der „Heimat der Werktätigen“, wo keiner den anderen ausbeutete? Warum hat er sich nicht wie seine Klassenbrüder nach Bananen oder Erdbeeren angestellt, für einen schlichten Bulgarienflug nächtelang vor dem Reisebüro am Alexanderplatz campiert? Im Gegensatz dazu Edina Stillers Vater, der Doppelagent, der zuerst für die DDR spitzelte, und dann – für Geld und eine neue Identität – Vaterland, Frau und Kinder im Stich ließ. Er wußte nur, daß ein Penthouse in Frankfurt am Main und ein Paß mehr wert sind als eine 2 1/2-Zimmerwohnung in Berlin-Johannisthal und eine fünf Jahre alte Trabantanmeldung. Das ist zwar menschlich verständlich – Verrat ist es allemal! Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum noch erklärbar, daß ehemalige Stasispitzel – hauptamtliche wie ehrenamtliche – heute die Achtung der Gesellschaft genießen, sogar in Amt und Würden die Geschicke von Ländern und Gemeinden bestimmen, öffentliche Ämter bekleiden, daß wirkliche Stasi-Opfer heute mit ansehen zu müssen, wie die ehemaligen Wärter von Bautzen und anderen Stasi-Gefängnisse höhere Renten beziehen als ihre Opfer. Den zwei auf besondere Weise durch diesen Verrat geprägten Frauen und den anderen Opfern der DDR-Stasi ist dieses Buch gewidmet. Nicole Glocke, Edina Stiller: Verratene Kinder. Christoph Links Verlag, Berlin 2003, 192 Seiten, 19,90 Euro
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