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Pankraz, Martin Heidegger und die weggesalbte Zeit

Pankraz, Martin Heidegger und die weggesalbte Zeit

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Pankraz, Martin Heidegger und die weggesalbte Zeit

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Ein Mann, den Pankraz anrief, um mit ihm interessante, wichtige Dinge zu besprechen, sagte ganz schlicht: "Für so etwas habe ich keine Zeit, ich bin am Sterben und muß mich jetzt ums Sterben kümmern." Dabei hatte er, wie Pankraz wußte, die äußeren Dinge seines Sterbens, Testament, Trauerfeier, Hinterbliebenenfürsorge, längst penibel geregelt. Seine Krankheit war unheilbar, er hatte sich damit abgefunden und schaute dem Tod gelassen ins Auge.

Er gehörte wahrlich nicht zur Spezies jener Zeitgenossen, für die es nur noch "ihre" Krankheit gibt, die für kein anderes Thema mehr zu haben sind und mit Leidenschaft und in allen nur denkbaren Lagen immer nur über "ihre" Krankheit diskutieren. Das Gegenteil war der Fall: Dieser Mann haßte die ewig sich im Kreise drehenden Reden über Krankheiten, die man hat und nicht wieder loswird. Er nahm seine Medikamente, um halbwegs schmerzfrei und geistig klar zu bleiben, und bedachte und debattierte weiter die öffentlichen Dinge, die "Probleme der Gattung", wie er gern sagte: die Weltläufte, das Gedeihen und Fortkommen der Enkel, seine geliebten logisch-mathematischen Probleme.

Um so eindrucksvoller und ergreifender sein plötzlicher Bescheid: "Ich muß mich jetzt ums Sterben kümmern." Wo blieb nun "der Mensch als Gattungswesen"? Ist der Tod nicht ein mächtiges Gattungsmerkmal? Kann man ihm im finalen Zwiegespräch nicht vielleicht doch noch diese oder jene Weisheit abgewinnen?

Aber der Freund war anderer Meinung. Er wollte nun allein sein, jedenfalls nicht mehr mit öffentlichen Dingen behelligt werden, und jeder hatte das zu respektieren. Wie denn auch anders? Alle Ärzte und Sterbehelfer wissen es: Der eigene Tod ist die allerprivateste Sache, die es gibt. Der bewußt und langsam Sterbende fühlt keinerlei Repräsentanz mehr, am wenigsten Gattungsrepräsentanz. Er fällt regelrecht aus der Gattung heraus, es gibt für ihn keine Allgemeinbegriffe mehr, nur noch Worte, die ihn unmittelbar selbst betreffen, "Existentialien", wie Heidegger das so treffend genannt hat.

Freilich, wenn derselbe Heidegger (der Heidegger des Buches "Sein und Zeit") diese ungeheuer private Situation, die "Krankheit zum Tode", als die einzige dem menschlichen Dasein überhaupt angemessene hinstellt, als die "Eigentlichkeit", der gegenüber jede an­dere Lebenshaltung bloße "Ausgeliefertheit an das Man" sei, Entfremdung, Uneigentlichkeit, dann ist doch Widerspruch fällig, zumindest Bedenklichkeit.

Sicherlich, der Tod "strukturiert" unser Dasein, jedenfalls insoweit, als er unseren Plänen natürliche Grenzen weist und uns zur Einteilung unserer Kräfte und unserer "Zeit" und zum Haushalten mit ihnen mahnt. Des Todes Angedenken wirft uns aus der gewohnten Bahn, läßt uns Eitelkeiten, Sinnlo­sigkeiten, Nichtigkeiten durchschauen, treibt uns zu Selbstprü­fungen, macht uns letztlich alle zu Philosophen, die über das Geheimnis des Seins und der Existenz nachzudenken versuchen, re­spektive zu Religionskindern, die beten lernen und ihr Schicksal unter die Gnade Got­tes stellen. Aber eine "vorlaufende Entschlossenheit zum Tode", dergestalt, daß sich sinnvolle Existenz immer nur am Leitfaden des Todes hinhangelt, gibt es nicht.

Jede reale Lebenspraxis spricht dagegen, die meisten großen Werke sind deutliche Gegenzüge gegen den Tod, sie leugnen ihn einfach, ganz so wie der Naturmensch ihn leugnet, ohne dadurch in Uneigentlichkeit und Entfremdung zu fallen. Und die Pointe ist: Auch die Praxis des Sterbens leugnet irgendwie den Tod, macht ihn zumindest zu einem Vorgang unter anderen, dem man sich mit Sachlichkeit zu stellen hat. Jener Freund verweigerte das Telefongespräch gewiß nicht, um nun exklusiv für sich selbst und echolos vor sich hin zu philosophieren, sondern – viel wichtiger – um hinreichend Zeit zu finden für all die Sterberituale und Gepflogenheiten, die nun, da seine letzte Stunde in Sicht kam, auf ihn warteten.

Es gibt eine Banalität, eine Selbstverständlichkeit des Sterbens, gegen die die gewissermaßen edlen Analysen von "Sein und Zeit" ganz hilf­los sind. So fein sie sich auch der Sprache anschmiegen – einem Sterbenden ins Gesicht gesprochen, würden sie sich als indiskret und überflüssig erweisen.

Trost beim Sterben, wagt Pankraz zu behaupten, kommt letztlich nicht aus dem Wort, sondern aus dem tiefinnerlich musikalischen Klang mitfühlender Stimmen und aus den Ritualen und aus der liebenden Umarmung. Und das sind Formen des Hinübergleitens, die seit unvordenklichen Zeiten schon zur sozialen Routine geworden sind und für die engste Verwandte, Priester und sonstige Meister der Wortmodulation zur Verfügung stehen. Heideggers "Einzigartigkeit des Todes" wird dadurch merkwürdig relativiert.

Der aus der Gattung herausfallende Sterbende ist zwar ungeheuer allein, wird jedoch durch Ritual und professionelle Betreuung gleichsam aus der Privatheit in die Gattung zurückgeholt. Und er ist fast immer damit einverstanden. Faktisch niemand möchte wirklich nur für sich selber sterben.

Deshalb ja auch der verbreitete Wunsch, zu Hause sterben zu dürfen, dem die Kliniken – schon ihrer Raumnot wegen – auch immer häufiger nachkommen, indem sie ihre sogenannten hoffnungslosen Fälle zum Sterben nach Hause entlassen. Auch der Mann, von dem hier die Rede war, ist schließlich zu Hause gestorben. Seine Frau war bei ihm, und ein katholischer Priester war bei ihm (obwohl er nie in die Kirche gegangen war) und gab ihm die "Krankensalbung", wie die "Letzte Ölung" seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil putzigerweise, wenn auch nicht ohne Zweideutigkeit, heißt.

Die Zeit, die er sich fürs Sterben genommen hat, war ein Abschied von der Zeit überhaupt, wie wir sie kennen. Die Krankheit namens "Zeit" wurde gleichsam weggesalbt, ein Brauch, für den man sich nicht zu entschuldigen braucht.

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