Von hier aus sollte das Land einst zur „Berliner Republik“ umgekrempelt werden. Kürzlich erst diskutierte die Nationalstiftung unter Helmut Schmidt über Funktion und Bedeutung Berlins, das Optimisten noch immer tapfer zur deutschen Weltmetropole ausrufen. Heute kann man darüber nicht einmal mehr lachen. Gar nicht mehr berlinerisch ätzend, sondern depressiv wirkt der Hohn über die lokale politische Klasse, an deren hermetischem Charakter der Regierungsumzug wenig geändert hat. Umgekehrt hat die Bundespolitik durch die Konfrontation mit Berlin, wo die „Wirklichkeit“ den schlaffen Akteuren Beine machen sollte, zu keinem Qualitätssprung geführt. Es ist ganz reizvoll, wenn leibhaftige Spitzenpolitikerinnen mit irrem Blick durch Nachtcafés am Prenzlauer Berg düsen und man ihnen wenigstens mimisch zu verstehen geben kann, was man von ihnen hält. Beim Radiointerview am nächsten Morgen zeigt sich aber, daß sie das kaltläßt. Der Regierungsumzug hat weder ein Mehr an Demokratie noch meßbare kulturelle oder gesellschaftspolitische Impulse in die Stadt gebracht. Vielmehr scheint es, als strebe die Bundesregierung ein Niveau an, das in der Berliner Lokalpolitik schon immer üblich war. Die Frage, ob Berlin eine Metropole sei, ist zur Zeit genausowenig sinnvoll wie die nach der Lokomotivfunktion der deutschen Wirtschaft im globalen Maßstab. Kritiker haben ja recht, wenn sie Hohn und Spott über die schlechtgekleideten Berliner ausschütten, die sich in der Regel nicht wie Großstädter, sondern wie verirrte Dörfler verhalten. Fast unmöglich, in der S-Bahn ein Buch zu lesen, weil der Gegenüber einem die Bierfahne ins Gesicht rülpst oder detaillierte Intimitäten ins Handy brüllt. Von den Restaurants, die auf gehobene Ansprüche pochen und gleichzeitig Kartoffeln anbieten, die wie Steine im Magen liegen, gar nicht zu reden. Die üblichen Erklärungen für die zivilisatorischen Mißstände: die Aderlässe durch Diktaturen, Krieg und Mauerbau, die plebejische Tradition der Stadt, die historisch ein Zusammenschluß von Kleingemeinden ist, reichen aber nicht mehr aus. Der öffentlichen Verwahrlosung liegt keine Ästhetik der Häßlichkeit zugrunde, die immerhin ein kultureller Gegenentwurf wäre, sondern sie widerspiegelt das soziale und menschliche Elend der Sozialstatistiken. Man kann über den Zusammenhang von ästhetischer und ökonomisch-sozialer Misere nicht hinwegsehen. Die biederen Hauptstadtzeitungen werben neuerdings im politischen Teil mit ganzseitigen Aldi- und Lidl-Anzeigen. Luxuriöse Grunewaldvillen stehen leer, obwohl ihr Preis um 20 Prozent gefallen ist, und ohne die dubiose Gattung neureicher Russen sähe es noch schlimmer aus. Der Zuzug einer neuen Stadtelite ist ausgeblieben, es herrscht eine große Tristesse vor. Niemand soll sich etwas vormachen: In Berlin kündigt sich ein Bundestrend an! Menschen aus 182 Ländern leben in der Stadt, 13 Prozent der Berliner haben einen ausländischen Paß. Die Moderatorin vom Quatsch Comedy Club (letzter Gast: Klaus Wowereit, der „sexiest Bürgermeister der Welt“) ist eine Amerikanerin, über die stolz verbreitet wird, sie habe für Berlin sogar ein Broadway-Angebot ausgeschlagen. Der Berliner Lieblingsrusse heißt Wladimir Kaminer, er hat lustige Kulleraugen wie der Mischka-Bär aus dem DDR-Kinderfernsehen, ist DJ, Schnellschreiber („Russendisko“, „Militärmusik“) und Entertainer in eigener Sache. Doch wirkliche Stars sind das nicht. Der Zustrom aus dem Ausland wird durch keine Wirtschafts- oder Kulturelite bestimmt, sondern von Leuten, die als erstes die Sozialämter stürmen. Überhaupt driften Selbstwahrnehmung und tatsächliche Lage bis zur Lächerlichkeit auseinander. Wenn ein paar Mode-Ateliers im „angesagten“ Bezirk Friedrichshain eröffnen werden, wird Berlin zur „Hauptstadt der Mode“ erklärt. Und wenn krisengeschüttelte Musikfirmen mit EU-Fördergeldern in die leerstehenden Büros am Potsdamer Platz gelockt werden, rufen die Lokalzeitungen die „Hauptstadt der Musik“ aus! Vergeßt den Metropolenanspruch! Die zwanziger Jahre sind vorbei, Berlin kann momentan nicht in derselben Liga spielen wie Rom, Paris und London. In den neunziger Jahren hatte man den Bedeutungsschwund mit allerlei Zukunftsversprechen kompensiert: Ein „Kompetenzzentrum“ sollte die Stadt sein, „Drehscheibe“ oder „Brücke nach Osten“. Doch bis heute hat man nicht realisiert, daß achtzig Kilometer östlich polnisch gesprochen wird. Die Verkehrsverbindungen haben längst nicht den Vorkriegsstand erreicht. Das Gezerre um den Berliner Großflughafen ist eine Lachnummer, die sich bald erübrigen dürfte, denn wer sollte das „Luftkreuz“ benutzen und wozu? Den Nimbus der „jungen“ Stadt verdankt Berlin zum Großteil den Studenten. Nur wandern die wieder ab, weil es in der Stadt keine attraktiven Arbeitsplätze gibt. Außerdem werden die Hochschulen gerade zur Ader gelassen. Noch wirkt es dekorativ, wenn junge Leute den ganzen Tag in Cafés herumsitzen und dreinschauen, als gehe an ihnen gerade ein Alfred Döblin verloren. Hartz II bis IV wird auch diesen Hinterbliebenen der New-Economy- und Medien-Szene den Garaus machen. Die Unermüdlichen, die eine neue Gründerzeit beschwören, müßten erst einmal die Frage beantworten, warum ausgerechnet inmitten der ökonomischen Wüste der Ex-DDR eine florierende Insel entstehen soll. Man läuft Gefahr, sich als Reaktion auf die zerschellten Berlin-Visionen früherer Jahre an Negativ-Prognosen zu delektieren. Auch solchen Schwarzsehereien ist zu widerstehen. Immerhin bietet die Gegenwart ein paar Anhaltspunkte für realistische Zukunftschancen. Der Soziologe Heinz Bude, der vor Jahren die „Generation Berlin“ erfand, hat ein „Washington-Szenario“ ins Spiel gebracht. Nach Bude bestimmt allein die Anwesenheit der großen Politik und der Machtorgane die Position der Stadt in Deutschland und Europa. Insofern kann man die avisierte Übernahme eine riesigen Innenstadtbrache direkt im Stadtzentrum durch den BND nur begrüßen. Einst sollten dort Parks, Sportanlagen und Wohnungen für gehobene Ansprüche entstehen, doch 13 Jahre nach der Wiedervereinigung gibt es dafür keinen Bedarf. Trotzdem wird Berlin für Deutschland und Europa mehr sein als Washington für die USA. Schließlich ist und bleibt es die mit Abstand größte Stadt des Landes. Der Reichtum an Kulturstätten, Bibliotheken, Archiven ist enorm. Hier kann man sich jahrelang problemlos aus dem Weg gehen, selbst wenn man ähnliche Interessen hat. Man kann Urbanität schmecken und gleichzeitig die Langsamkeit entdecken, man kann ein Gleichgewicht zwischen aktiver Teilhabe und Sezession finden. Vielleicht ließe sich daraus ein neuer, humaner Begriff vom Großstadtleben kreieren? Aber das ist schon wieder eine Berliner Fata morgana, die Liebhabern dieser Stadt nur zu schnell passiert. Vielleicht sollte man zur Abwechslung keinen Visionen mehr nachjagen, sondern so gut wie möglich die konkreten Aufgaben erfüllen. Mag der Regierende Bürgermeister sich inzwischen getrost zum Affen machen.