Auf dem Kalender der Theologiehistoriker beginnt das 20. Jahrhundert erst am 9. November 1918. In Deutschland bricht die Revolution aus, in Preußen endet mit der Flucht Wilhelms II. nach Holland das landesherrliche Kirchenregiment. Der emeritierte Hamburger Ordinarius für Systematische Theologie, Hermann Fischer, ein Gelehrter mit ostpreußischen Wurzeln, trifft daher keine schlechte Wahl, wenn er Weltkriegsniederlage und Hohenzollernsturz als "Epochenwende" auffaßt und sie zum Ausgangspunkt seiner "Geschichte der protestantischen Theologie im 20. Jahrhundert" macht.
Zufällig scheint diese politische Umwälzung auch mit einem Generationswechsel zusammenzufallen. Wichtige Exponenten der bis 1918 dominanten "liberalen Theologie" und des "Kulturprotestantismus" wie Wilhelm Herrmann oder Ernst Troeltsch sterben, bald nachdem ihr radikalster Gegner, Karl Barth, und die mit seiner Römerbrief-Deutung (1919) anhebende, fast zur intellektuellen Mode werdende "dialektische Theologie" die Diskurs-Karusselle der zwanziger Jahre in Schwung bringt. Andere wie der Berliner Kirchenhistoriker und imperiale Wissenschaftspolitiker Adolf von Harnack, der in der direkten Konfrontation mit Barth keine schlechte Figur macht, verlieren an Einfluß auf den Nachwuchs. Barths an Kierkegaard anschließende "Neuentdeckung der Souveränität Gottes" kam die Katastrophen- und Krisenerfahrung nach dem Ersten Weltkrieg in einem Umfang zugute, der jedem "Weitermachen" in der optimistischen Tradition des 19. Jahrhunderts den Boden entzog.
Die Darstellung Fischers verfährt insofern konsequent, als sie Barths dialektische Theologie sowie die geistig verwandten Strömungen des "Religiösen Sozialismus" (Paul Tillich) und der "Lutherrenaissance" (Karl Holl) in den Mittelpunkt stellt. Gerade im Jungluthertum, das in den Werken von Friedrich Gogarten und Paul Althaus beachtliche Affinitäten zum Gedankengut der Konservativen Revolution aufweist und das Emanuel Hirsch von der theologischen Überhöhung des "Volkes" ins Lager der NSDAP führt, ist die von Fischer eingangs betonte Verzahnung theologischer Grundlagendiskussionen mit der geistig-kulturellen wie der politischen Entwicklung unübersehbar. Leider zeigt sich dann aber, daß Fischer eben doch mehr Systematiker als Historiker ist.
Im Vergleich mit dem zweiten, dem 20. Jahrhundert gewidmeten Band von Jan Rohls "Protestantische Theologie der Neuzeit" (1997) schenkt Fischer dem historisch-politischen Kontext ungleich geringere Beachtung. Mit der Folge, daß selbst wichtige Theologen der zwanziger Jahre kaum als Randfiguren auftauchen, wie Fischer insgesamt – was er im Vorwort einräumt – das Versprechen des Titels nicht einlöst, eine Geschichte der protestantischen Theologie zu liefern. Weder Neutestamentler noch Kirchenhistoriker sind vertreten, da Fischer sich nahezu ausschließlich mit den Denkgebäuden seiner Vorgänger, der Systematiker, auseinandersetzt.
Anders als Rohls, dessen Darstellung der Jahrzehnte nach 1945 sehr kursorisch ausfällt, gelingt dem streng selektierenden Fischer hingegen ein konzentrierter, mitunter sehr streng über ökumenische Tendenzen urteilender Überblick über die gegenwärtige Diskussionslage. "Tragende Einsichten oder verbindende Überzeugungen", die Barth oder Gogarten noch zu liefern glaubten, sind heute nirgends mehr zu entdecken. Genauso sei von der "beeindruckenden Fülle systematisch-theologischer Potenzen" in der Väter- und Großvätergeneration nach 1945 nichts mehr übriggeblieben.
Fischers Vernachlässigung des geschichtlichen Umfeldes wird reichlich ausgeglichen in dem von Thomas Kaufmann (Göttingen) und Harry Oelke (Kiel) herausgegebenen Sammelband über "Evangelische Kirchenhistoriker im ‚Dritten Reich’". Ein Drittel des Werkes bestreitet Kaufmann selbst mit einem quellengesättigten und zumeist in wissenschaftshistorisches Neuland vorstoßenden Aufsatz über den aus baltischer Familie stammenden, kultur- und wissenschaftspolitisch äußerst ambitionierten Erich Seeberg (1888-1945). "Deutsche Mystik – Lutherrevolution – deutsche Frömmigkeit", mit dieser Trias steckt Kaufmann den Horizont der "nationalen und kulturellen Selbstfindungsdiskurse" der Zwischenkriegszeit ab. Seeberg, der – nach rasch folgenden Berufungen über Königsberg, Breslau und Halle 1928 endlich am Ziel seiner Wünsche – den Berliner kirchengeschichtlichen Lehrstuhl besetzte, nahm mit seinen weltanschaulichen, "außentheologischen Interessen" in diesen Deutungskämpfen um die Werke von Meister Eckart, Luther und Gottfried Arnold eine zentrale, wenn auch heute weitgehend vergessene Position ein. Auf eine untergründige Wirkung über 1945 hinaus weist Kaufmann indes hin: Der Deutschnationale Seeberg war der Lehrer des in völkischen Verbänden sozialisierten Fritz Fischer, der nach einer atemberaubenden linksliberalen Wende 1961 als Hamburger Zeithistoriker Deutschland mit der Alleinschuld am Ausbruch des Ersten Weltkrieges belastete.
Doch dies ist nur eine Facette des üppig mit Anmerkungen "unterkellerten" Beitrags von Kaufmann, der so viel Material nur in 700 Fußnoten unterbringen kann, daß es vielleicht empfehlenswerter gewesen wäre, hieraus eine Monographie zu Leben und Werk Erich Seebergs zu machen. Im Umfeld eines Sammelbandes scheint eine derart profunde Studie jedenfalls nicht richtig zur Geltung zu kommen. Abgesehen davon, daß der Leser, gebannt von Kaufmanns Anmerkungsgewitter, den Aufsatz Martin Ohsts über den Ersten Weltkrieg in der Perspektive Emanuel Hirschs und Hanns Christof Brenneckes Abhandlung über die "völkische Deutung der Christianisierung der Germanen im Nationalsozialismus" vielleicht kaum noch wahrnimmt.