Im Zusammenhang mit dem Kunstfund in der Schwabinger Wohnung Cornelius Gurlitts konnten die Sensationsmedien wieder zur Hochform auflaufen und allerlei abenteuerliche Thesen über den „Nazi-Schatz“ verbreiten. Zwischen irgendwelchen inszenierten „Skandal“-Meldungen über Miley Cyrus, den nächsten von der Musikindustrie installierten Pop-Hüpfer, verlieh die Kunstschatz-Story Portalen wie web.de den Anstrich geistigen Tiefgangs. Da „Nazi“ sowie „Sex and Crime“ bei Boulevardjournalisten immer noch gut läuft, habe ich die ganze Zeit nur noch auf Schlagzeilen à la „Wilde Sexpartys auf der Dix-Leinwand?“ gewartet. Michael Paulwitz hat dankenswerterweise in einem JF-Kommentar einiges zu der Angelegenheit richtiggestellt.
Mit einem befreundeten Juristen unterhielt ich mich dieser Tage darüber, ob es eigentlich rechtlich zulässig sei, daß Gurlitts privater Besitz einfach beschlagnahmt und im Internet veröffentlicht wird. Immerhin ist ja noch kein Verbrechen erwiesen, und kriminelle Diebe könnten durch die Veröffentlichung auf den Privatbesitz aufmerksam werden. Demnach könnte die Veröffentlichung in die Begünstigung einer künftigen Straftat münden. Der Jurist antwortete mir, daß das eine Streitfrage wäre, wo das Persönlichkeitsrecht endet und wo solche Maßnahmen zur Aufklärung einer eventuellen Straftat angebracht sind. Und dieser Verdacht sei angesichts eines in der Wohnung gelagerten Wertes von einer Milliarde Euro schon gegeben.
Sei’s drum. Die Gurlitt-Angelegenheit führte jedenfalls dazu, daß in den Leitmedien mal wieder die Leier der Vergangenheitsbewältigung abgespult werden konnte. Nicht nur die Wiener Zeitung konnte sich nun wieder über den von den Nationalsozialisten begangenen „größten Kunstraub der Geschichte“ auslassen.
Beute aus Prager Kunstraub noch immer in Schweden
Hierzu einige Fakten: Nach einer Verlautbarung von Jonathan Petropoulos, Presidential Advisory Commission on Holocaust Assets in the U.S., sollen um 600.000 Kunstwerke zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten in Europa gestohlen worden sein, davon 200.000 auf dem Territorium des Deutschen Reiches. Noch vager und letztlich kaum mehr bestimmbar sind die Zahlen bei geraubten Kulturgütern, also beispielsweise Möbeln, Büchern, Schmuck, Münzen. Laut Petropoulos’ Angaben wurde davon der größte Teil nach dem Krieg von den Westalliierten zurückgegeben, und zwar 2,5 Millionen Objekte, darunter rund 470.000 Gemälde.
Der Spiegel berichtete 2012 von 4.000 Kulturgütern, die Göring in seinen Privatbesitz genommen habe. Allerdings dürften diese nicht komplett illegal erworben worden sein, denn das Magazin schrieb, daß er auch Werke auf dem Kunstmarkt gekauft und bereits Ende der 1920er Jahre gesammelt hat, also vor der NS-Machtergreifung.
Nun soll nicht beschönigt werden, was Göring und Konsorten so einst getrieben haben. Aber einige Ergänzungen zu den einseitigen Berichten scheinen angebracht. Kunstraub bzw. Beutekunst hat es schon seit Jahrtausenden gegeben. Vor der Haager Landkriegsordnung galten Plünderungen als erlaubtes Mittel des Krieges. So ließ beispielsweise der in schwedischem Dienst stehende Feldmarschall Hans Christoph Graf von Königsmarck am Ende des Dreißigjährigen Krieges beim „Prager Kunstraub“ 1648 fast die gesamten Schätze des Prager Burgbergs, darunter 700 Gemälde, nach Schweden abtransportieren, wo man sie heute noch besichtigen kann. Auch Napoléon Bonaparte sammelte bei seinen Feldzügen eifrig wertvolle Kunstgegenstände ein. Und auch die Alliierten waren nach 1945 nicht gerade zimperlich, wenn es um den nun illegalen Raub von Kunst und Kulturgütern ging. Bis heute ungeklärt ist die Zahl der Kulturgüter, die aus Deutschland nach dem Krieg in die USA gebracht wurden. Oftmals tauchen Einzelstücke unvermutet auf, darunter NS-Kunsthandwerk oder als „Souvenir“ deklarierte Gemälde.
Größter Kunstraub bei Ausplünderung Ostdeutschlands
Laut Petropoulos’ Angaben raubte die Sowjetunion zwischen 1944 und 1947 1,8 Millionen Kulturobjekte. Davon wurden nach der Stalinära 1955 bis 1958 knapp 1,6 Millionen an die DDR oder andere osteuropäische Länder zurückgegeben. Bis heute aber befinden sich 200.000 geraubte Kunstobjekte deutscher Herkunft völkerrechtlich illegal in russischen Depots, teils unter schlechten Bedingungen. Die deutschen Politiker sprechen das Thema stets nur zaghaft an, die Medien berichten nur selten darüber. Zudem ist Polen immer noch im Besitz der „Berlinka“-Sammlung, 300.000 Bände mit teils wertvollen mittelalterlichen Handschriften aus der Preußischen Staatsbibliothek Berlin.
Gegen Rückgabeverfahren ist also nichts einzuwenden, diese sollten aber gleichwertig stattfinden. Zudem bleibt ein Punkt außer acht. Die heute als NS-Raubkunst an Erben der einstigen Eigentümer zurückgegebenen Werke kommen nur denjenigen zugute, deren Vorfahren schon vor der NS-Zeit ein gewisses Vermögen für eine Kunstsammlung anhäufen konnten und die heute über die nötigen Beziehungen und den Einfluß verfügen, diese Kunstgegenstände international zu erstreiten. Ganz anders sieht es bei den vielen Menschen aus unteren Schichten oder den Kleinbürgertum aus.
Ein Onkel berichtete mir einst, daß er nach dem Krieg US-Soldaten gesehen hätte, die an jedem Arm zahlreiche gestohlene Armbanduhren trugen. Offenbar ein Machtsymbol wie heute das „abgerippte“ Handy. Und das sind nur Kleinigkeiten gegen die Verluste der Privatpersonen in den später sowjetisch, polnisch und tschechisch kontrollierten ehemaligen Reichsgebieten, die nicht nur aus ihren Wohnungen und Häusern vertrieben wurden, sondern deren kompletter Besitz ab 1945 geraubt wurde. Darunter dürften auch viele Millionen Kulturgegenstände gewesen sein: alte Gemälde, Graphiken, Biedermeier-Möbel, über Generationen vererbte Schmuckstücke, Münzen. Niemand hat je den Umfang dieses wohl wahrlich „größten Kunstraubs der Geschichte“, zumindest an Kulturgütern, je detailliert erforscht. Es dürfte auch unmöglich sein. Von Rückgabeansprüchen oder dem Einstellen von Fundstücken ins Internet ganz zu schweigen. Die kleinen Leute, deren Besitz gestohlen und in alle Welt verschleppt wurde, haben nun mal keine Lobby, die auf Rückgabe des Familienbesitzes pocht. Daß es sich dabei um Deutsche handelt, kommt erschwerend hinzu.