Ich habe einen Traum: Wie sähe sie aus, die vierte Republik, jene nach Weimar, Bonn und der ersten Variante Berlin? Die Franzosen zählten ihre Republiken, wir hier die „Reiche“, jedoch diesbezüglich werden wir ausgezählt haben. Aber die Numerierung der Demokratien ermutigt: zum Wandel!
Der Blick auf die dritte Republik, die Berliner, offenbart, daß sie mindestens noch zweierlei zu leisten vermag: Sie saniert mit dem Geld der Bürger die sie tragenden „systemischen“ Finanzer, indem sie deren Gewinne sichert und deren Schulden vergesellschaftet, sie sorgt durch moderate, also relative Niedriglohnpolitik sogar für ein Exportwunder und quantitativen Aufschwung, die wohl den Unternehmen, bislang aber kaum den verschuldeten Kommunen zugute kommen; und sie ist andererseits sogar in der Lage, die sogenannten Schwachen insoweit zu alimentieren, daß deren Teilhabe als Konsumenten auf unterem Discountermilieu gewährleistet ist. Zwei Begriffe sind ihr verpönt, die Worte „Hochfinanz“ und „neue Armut“.
Nach außen gibt sie die redlich kräftige Magd Europas, die stärkste Nettozahlerin, der es in aller Bescheidenheit egal ist, daß die Union zunehmend sogar ihre Sprache, jene des größten europäischen Sprachraums, mißachtet. Ja, das Land funktioniert. Mag die Bürokratie zuweilen anstrengen, sorgt sie doch für Verbindlichkeit und einen rechtsstaatlichen Standard, der in der Welt seinesgleichen sucht.
Physisch fit – seelisch krank
Was fehlt? An Physis so gut wie nichts, an Anima fast alles: Diese Republik lebt nicht. Was als Konsens erscheint, ist lediglich Sediertheit. Wenn man etwa mit einer Wahlbeteiligung um 50 Prozent neuerdings hochzufrieden ist, gleicht man einem Kranken, der seine miserablen Laborwerte lieber gar nicht wissen will. Hauptsache, der Puls ist noch zu tasten.
Ab und an wollen Regierung, „Volksparteien“ und beiden nachgeordnete Einrichtungen das Bürgerbewußtsein mit bunt plakatierten Initiativen wiederbeleben, andererseits werden gerade in den sogenannten neuen Ländern Monsterkreise von der Größe halber Bundesländer geschaffen, die es unmöglichen machen, daß Demokratie dort beginnen kann, wo sie eigentlich herkommt, nämlich unten.
In einem Interview mit dieser Zeitung beklagte der ehemalige Bundespräsident Roman Herzog, vielleicht einer der letzten Charismatiker in Zeiten politischen Niedergangs, daß der Ausgangspunkt bürgerlicher Revolutionen, das Verlangen nach Subsidiarität, längst einen „Uniformismus“ der EU gewichen ist, die, demokratisch unzureichend legitimiert, zentralstaatlich schaltet und waltet und den Bürger, der ohnehin allzu sehr kuscht, gerade zu existentiellen Problemen wie Verfassung und Währung gar nicht mehr fragt.
Unterwerfung unter EU und globale Märkte
Hauptfunktion der dritten Republik scheint es zu sein, sich der sogenannten Globalisierung und der EU fast bedingungslos zu unterwerfen und das noch als große Chance zu beschwärmen. In der politisch unverdächtigen Süddeutschen Zeitung wies Klaus Brill jüngst (25. Mai 2011) darauf hin, die einseitige Verfügung des Bundestages und der Landtage über die Finanzen der Kommunen habe längst zur Verelendung der lokalen Ebene geführt, die nach Expertenurteil verfassungswidrig sei.
Die aktuelle Landesplanung folge dem Prinzip der „zentralen Orte“, das der Geograph Walter Christaller 1933 ersann: „Es ist die Übertragung des Führerprinzips auf die Raumordnung und wurde von den Nazis im besetzten Polen angewandt.“ Endlich, so Brill, gründen sich sogar Dorfbewegungen, die gegen diese Mißachtung aufbegehren. Roms Niedergang, fällt einem ein, begann in den Provinzen, Städten und Gemeinden. Auch im Regierungsviertel und am Potsdamer Platz ist heute die Welt noch in Ordnung.
Gibt es nennenswerten Widerstand? Kaum. Es gibt die Renaissance der Anti-Atomkraft-Bewegung, angesichts derer Latschdemos man sich wundert, wie Kraft an einem Ende anzusetzen versucht, an dem man keiner bedarf. Die dritte Republik wäre nur an einer Stelle aufzuregen – an ihrem ökonomistischen Selbstverständnis, nichts weiter als eine Firma zu sein, die den Leuten alles in die Regale bringt, worauf sie scharf sind, ein Standort eben, bitte keine Nation, schon gar kein Vaterland. Bereits eine kritische Minderheit, die sich bewußt macht, daß zur Bürgerlichkeit mehr gehört als Konsum und Hedonismus, würde für erfrischende Inspiration sorgen können.
Vielleicht kann man sich pauschal darauf einigen: Mehr als dreißig Jahre politischer Stagnation hat es in der jüngeren deutschen Geschichte bislang nicht gegeben. Vielleicht sollte man sich den Begriff der vierten Republik politisch sogar schützen lassen.