Der Verteidigungsminister will die Truppe nach Ritualen durchsuchen lassen, die den „Grundsätzen der Bundeswehr widersprechen“. Dieser neueste Streich Karl-Theodor zu Guttenbergs weckt bei mir Erinnerungen an die eigene Wehrpflichtzeit vor nun fast schon dreißig Jahren. Damals, Anfang der 1980er Jahre, stand die Armee unter ganz anderem Druck als derzeit. Sie hatte ein Mehrfaches an Soldaten im Vergleich zu heute und drum herum tobte in der Bundesrepublik allerhand politischer Grundsatzstreit, der die Massen bewegte und der in die Armee hineinschwappte.
Hunderttausende demonstrierten gegen Startbahn West, Atomkraft, Volkszählung und Nachrüstung. Gefragt war Innere Führung, und mit einer im nachhinein erstaunlichen Offenheit wurde im Rahmen „politischer Bildung“ über diese Themen informiert und gestritten. Gestritten wurde schon deshalb, weil die Wehrpflicht damals noch wirklich eingefordert wurde und die Truppe daher auch eine erkleckliche Zahl gescheiterter Wehrdienstverweigerer enthielt.
„Ich-verweigere-aus-Gewissensgründen“-Komödie erfolgreich
Dazu kam mancher tadellose Linksextremist, der offen aus politischen Gründen opponierte und zu stolz gewesen war, um sich auf den Beratungsstellen von Jusos und Grünen das dort billig angebotene befragungsresistente Kostüm zuschneidern zu lassen, mit dem sich bei den zuständigen Stellen dann die „Ich-verweigere-aus-Gewissensgründen“-Komödie erfolgreich aufführen ließ.
Auch system- und regierungskritischen Stimmen wurde daher in der politischen Bildung der Truppe durchaus Raum gegeben. Die Offiziere namen’s gelegentlich mit Humor („Ich habe Sie jetzt einmal ausführlich reden lassen, damit der kommunistische Standpunkt vollständig dargelegt ist.“), brachten aber insgesamt ihren Standpunkt energisch zur Sprache, ohne übermäßigen Druck auszuüben.
Rituale für den Zusammenhalt nicht vermißt
In dieser Stimmungslage nun ereignete sich eine Episode, die hier zum Stichwort „Ritual“ führt. Auf der Bahnfahrt zum Dienst öffnete sich eines Tages die Abteiltür und ein leibhaftiger Oberstleutnant gesellte sich überraschend zu uns Wehrpflichtigen. Das hätte eine unangenehm steife Situation werden können, aber tatsächlich entspann sich schnell ein Gespräch, bei dem sich der Neuzugang als interessierter, präziser und überaus präsenter Gesprächspartner herausstellte, der sich gern ein Gesamtbild vom Gemütszustand der Truppe machen wollte und Offenheit zu schätzen wußte. Unter anderem wollte er eben wissen, ob es bei den Einheiten noch Rituale geben würde und ließ durchblicken, solche Rituale seien für den Zusammenhalt essentiell wichtig.
Das traf bei allen Anwesenden auf Unverständnis. Rituale gab es nicht und niemand vermißte sie. Diesen Umstand nahm er mit erkennbarem Bedauern zur Kenntnis und das Gespräch wandte sich anderen Themen zu, unter anderem ein paar freundlichen Ratschlägen (etwa dem, sich die Produkte gewisser deutscher Qualitätsmedien einmal unter diesem oder jenem Blickwinkel kritisch anzusehen). Nach einer Stunde verließ er mit knappem Kopfnicken und der Bemerkung: „Ich hoffe, Sie haben profitiert“, das Abteil.
Rituelles Abschlachten von Traditionen steht hoch im Kurs
Über die Ritualfrage haben wir unter uns noch dann und wann gesprochen. Ein Freund von Ritualen bin ich persönlich nie geworden, aber es mag völlig zutreffend sein, daß rituelle Veranstaltungen den Korpsgeist fördern. Der vielbeschworene Zeitgeist gibt sich jedoch ritualfeindlich und war das schon vor einer Generation, auch in der Bundeswehr. Aber halt, ganz richtig ist dies nicht: das rituelle Abschlachten von Traditionen steht derzeit hoch im Kurs.