Ehrlich gesagt spielte in meiner Kindheit zu Hause Fußball keine Rolle. Niemals habe ich mit meinem Vater die „Sportschau“ gesehen. Von Profi-Sport hielt er genausowenig wie von Karneval. Wir gingen wandern und schwimmen. Fertig. Bis heute habe ich keine Ahnung, wie die Bundesliga funktioniert, die Tabelle ist mir Hekuba. Erst bei Europa- oder Weltmeisterschaften begann ich mich irgendwann allmählich für Fußball zu interessieren. Klar, Deutschland mußte gewinnen. Wer sonst?
Unvergessen die Fußball-WM in Italien 1990. Der Sieg mit einem 1:0 gegen Argentinien. Der einsame Kaiser Franz auf dem Fußballplatz nach dem Endspiel. Es war die emotionale Brücke zwischen dem Mauerfall am 9. November 1989 und der Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990.
Umfrage: Özil und Gündogan hätten daheim bleiben sollen
Die Rückkehr der Einheit, Deutschland atmet auf, endlich können wir unser Nationalgefühl offener zeigen. Die Fröhlichkeit und riesige Begeisterung kam aber erst mit dem „Sommermärchen“ 2006, als die WM in Deutschland stattfand und das ganze Land in Schwarz-Rot-Gold getaucht wurde.
Das 7:1-Spiel gegen Brasilien, der vierte WM-Stern 2014, ist das für die Nationalelf in diesem Jahr überhaupt zu wiederholen? Hat sich nicht die Flüchtlingskrise, der Kontrollverlust des Staates wie ein Schatten über den Sport gelegt? Die Empörung, die die Fotos vom Treffen der Nationalspieler Özil und Gündoğan mit dem türkischen Machthaber Erdoğan auslöste, die Pfiffe beim Testspiel gegen Saudi-Arabien am vergangenen Freitag – alles Zeichen dafür, daß der Rückhalt der Nationalmannschaft bei einem Teil der Fans gelitten hat.
Eine Insa-Umfrage im Auftrag der JUNGEN FREIHEIT zeigt, daß die Irritation über das Verhalten der beiden türkischstämmigen Nationalspieler erheblich ist. Fast die Hälfte der Befragten meinte, daß die beiden daraufhin nicht hätten für den Nationalkader nominiert werden sollen. 60 Prozent der AfD-Anhänger meinen, daß die Flüchtlingskrise negative Auswirkungen auf die Stimmung während der WM haben wird.
Ablenkung vom katastrophalen Krisenmanagement
Sicher ist: Gerade viele Kinder werden mit „ihrer“ Nationalelf mitfiebern. Und die Kanzlerin wird gemäß dem alten Motto „Brot und Spiele“ darauf setzen, daß für die kommenden Wochen für Ablenkung vom katastrophalen Krisenmanagement der Bundesregierung gesorgt ist.
Viele erwachsene Fans sind inzwischen sauer, daß der Fußball so politisiert wird. Die Diskriminierung von AfD-Sympathisanten bei Eintracht Frankfurt. Die penetranten Anti-Rassismusappelle einerseits, das Nicht-Durchsetzen des gemeinsamen Hymne-Singens bei den Nationalspielern andererseits. Eigentlich steht Deutschland vor anderen Herausforderungen, als einen fünften Stern bei der WM zu ergattern. Trotzdem drücke ich Löw und den Jungs die Daumen.
JF 25/18