Der Einbruch der SPD in NRW, da sind die Medien sich einig, habe ganz wesentlich mit der unentschlossenen Haltung von Kanzler Olaf Scholz im Ukraine-Krieg zu tun. Er bleibe die angekündigte „Zeitenwende“ schuldig, versäume seine „Führungsrolle“, lasse „Tatkraft“ vermissen und bereite die Deutschen nicht auf die „Entbehrungen“ vor, welche die ukrainische Führung – zuletzt Außenminister Dmytro Kuleba – von ihnen fordert.
Wie anders dagegen die mit einem verdreifachten Stimmanteil belohnten Grünen, deren Außenministerin jüngst verkündete, Rußland dürfe „jahrelang nicht mehr auf die Beine“ kommen. Daß ihr Geplapper sich auf dem Niveau der alldeutschen Propaganda vor dem Ersten Weltkrieg bewegt, fällt im unterbelichteten Medienbetrieb wie in der Wählerschaft niemandem auf.
Nebenbei: Der FDP hat es überhaupt nichts genutzt, daß ihre Vertreter im Verteidigungsausschuß des Bundestages zwei Tage vor der NRW-Wahl demonstrativ die Sitzung verließen, weil die Ausführungen des Kanzlers zum Ukraine-Krieg nach ihrem Geschmack nicht genug Schmiß hatten. Der inszenierte Eklat sei „dem Ernst der Lage nicht gerecht“ geworden, räumte ihr Sprecher kleinlaut ein und trat von seinem Posten zurück.
Kanzler will es allen recht machen
Auf eine hintergründige Weise angemessen war hingegen die Fernsehansprache von Kanzler Scholz am 8. Mai. Niemand hatte mit ihr die Erwartung rhetorischer Glanzlichter oder inhaltlicher Überraschungen verbunden. Die Erwartungslosigkeit ist voll in Erfüllung gegangen. Der Kanzler hat versucht, es jeder Seite recht zu machen, außer natürlich der russischen. Seine Rede wirkte mechanisch, hölzern, unbeteiligt, wie von einem Scholzomat vorgetragen.
Gerade deswegen war sie der perfekte Ausdruck der Situation, in der wir uns befinden. Sie signalisierte: „Ich weiß, Ihr wißt, daß ich zum Krieg in der Ukraine nichts zu sagen habe. Und zwar im wörtlichen wie im übertragenen Sinne. Die Entscheidung darüber, was Deutschland zu tun oder zu unterlassen hat, liegt nicht in meiner Hand. Ich bin in dieser Frage bloß ein Titularkanzler. Ein König Ohneland. Ihr habt gesehen, wie brutal der US-Präsident mich im Februar bei unserer gemeinsamen Pressekonferenz im Weißen Haus abgefertigt hat, als die Frage auf Nord Stream 2 kam. Ich habe nicht einmal die Macht, jenen unflätigen Botschafter, der mir, Eurem gewählten Regierungschef, und dem Bundespräsidenten, der politischen Symbolfigur unseres Landes, nach Belieben ins Gesicht spuckt und in den Hintern tritt, rauszuwerfen. Denn er ist die Stimme des Imperiums, dessen Teil wir sind. Schlimmer noch, die deutschen Medien und die eigenen Koalitionspartner liegen diesem Lümmel zu Füßen. Ich kann, um Schaden von Euch abzuwenden, nur versuchen, mit möglichst wenig Reibung den getretenen Hintern an der Wand entlang zu bekommen.“
Gestorbene russischen Imperialmacht
Lassen wir alle berechtigten Emotionen, die alten, wieder aufgebrochenen Ressentiments und die Propaganda-Plattitüden der Medien beiseite. Der Ukraine-Krieg ist der Stellvertreter-Krieg zweier, im weiteren Sinne dreier Imperialmächte: Ein Krieg zwischen der sterbenden, im Grunde schon gestorbenen russischen Imperialmacht, die außer Atomwaffen nichts mehr zu bieten hat und sich mit ihrer „Spezialoperation“ gegen das Unvermeidliche wehrt. Und der noch immer höchst vitalen amerikanischen Macht, die zugleich den Aufstieg Chinas bremsen will, das bestrebt ist, mit der Neuen Seidenstraße einen eurasischen Wirtschaftsraum nach eigenen Vorstellungen zu erschaffen und sich als imperiale Supermacht zu etablieren.
Europa ist jetzt eindeutig als US-Claim abgesteckt. Rußland befindet sich in der geopolitischen Zange. Unabhängig davon, ob der angezählte russische Bär den Chinesen in die Arme taumelt, ob diese sein Fell mit den Amerikanern teilen oder ob Rußland doch noch zu einer Einigung mit den USA kommt – Europa ist auf jeden Fall bloß Zuschauer und auf der Verliererseite.
Die Ukraine als Schlachtfeld
Hauptverlierer ist natürlich die Ukraine. Ihre Position ist wahrhaft tragisch. Was die Führung in Kiew als nationalen Freiheitskampf proklamiert, ist aus geopolitischer Perspektive die territoriale Konkretisierung eines globalen Hegemonialkampfes. Die Ukrainer agieren darin als Stellvertreter der Amerikaner, ihr Land wird als Schlachtfeld genutzt, vielleicht bis zu seiner völligen Zerstörung. Europa und Deutschland werden die Folge- und Wiederaufbaukosten zu übernehmen haben.
Unter ästhetischem Gesichtspunkt ist es faszinierend, wie viel Macht die USA unterhalb der offiziellen Kriegserklärung zu entfalten in der Lage sind: wirtschaftlich, politisch, propagandistisch, logistisch, technisch. Sich offen dagegen zu stellen, wäre verrückt. Der Autor dieser Zeilen beendete 1994 seinen ersten USA-Besuch am 13. August. Für einen gewesenen DDR-Bürger wog dieser Tag, der Tag des Mauerbaus, noch immer schwer. Letzter Höhepunkt der Reise war der Blick von der Aussichtsplattform des Empire State Building. Aus 380 Meter Höhe schaute er auf die riesigen Dimensionen New Yorks und spürte seine pulsierende Kraft. Zu seinem Gastgeber, einem Studienfreund, sagte er: „Und da hat die kleine, dumme DDR sich tatsächlich eingebildet, sie könne etwas gegen den US-Imperialismus unternehmen.“ Beide lachten herzlich darüber.
Das sind mehr oder weniger die Kräfteverhältnisse, denen Deutschland und sein Kanzler sich heute beugen müssen. Um so wichtiger ist es für den Beherrschten, in der Beziehung zum Hegemon nicht den Unterschied zwischen dem nötigen realpolitischen Opportunismus und blinder Unterwerfung zu verwischen, das heißt, das Gesetz der Macht nicht zum moralischen Gesetz und den Machthaber nicht zum Über-Ich zu erheben. Er muß sich klar darüber sein, daß die Imperialmacht in der Lage und – falls es in ihrem Interesse liegt – auch bereit ist, ihn zu Handlungen zu nötigen, die für ihn falsch und nachteilig sind bis hin zur Selbstbeschädigung. Nur mit dieser klaren Einsicht ist er, sollte irgendwann ein Fensterchen der Möglichkeiten sich öffnen, befähigt hindurchzuschlüpfen und das für ihn Richtige oder wenigstens Bessere zu tun.