Zwecks Deutung des russischen Angriffs auf die Ukraine wird regelmäßig auf die Geopolitik hingewiesen. Entweder, um Prognosen in bezug auf die langfristigen Pläne von Rußlands Präsident Wladimir Putin zu stützen, oder um Verständnis für die Zwangslage zu signalisieren, in die Moskau durch die drohende Ausweitung der Nato geraten sei. Die Zeit stellt lapidar fest: „Die Geopolitik war nie am Ende.“ (Gero von Randow)
Es handelt sich um eine späte Einsicht. Denn der Mainstream der Bundesrepublik hielt nichts vom „Unsinn geostrategischer Konstanten“ (Hans-Ulrich Wehler) und witterte Ungemach, wenn er „geopolitisches Tamtam“ (Jürgen Habermas) zu hören glaubte. Eine Aversion, die sogar den Zusammenbruch des Ostblocks, die Wiedervereinigung, das Scheitern der globalen US-Interventionen und das Wiedererstarken Rußlands in den beiden vergangenen Jahrzehnten überstand. Zu erklären war das durch „Apperzeptionsverweigerung“ (Heimito von Doderer), eine antipolitische Bockigkeit, die es den tonangebenden Kreisen erlaubte, über die Realität des politischen Geschehens hinwegzusehen. Diese Realität hält jetzt bittere Lehren bereit, unter anderem die, daß Geographie „Schicksal“ ist.
Der Staat als „bodenständiger Organismus“
Ein Satz, den man zu Recht oder Unrecht Napoleon zuschreibt, der wie alle bedeutenden Staatsmänner wußte, daß die Lage eines Gemeinwesens, seine Landschaft, die Art seiner Grenzen, die Konstellation seiner Nachbarn, die Beschaffenheit seines Grundes wesentlich mitbestimmen, welche Überlebens- und welche Entfaltungschancen es hat. Friedrich Ratzel, der Vater der Geopolitik, nannte den Staat einen „bodenständigen Organismus“, und von dieser Annahme ausgehend, haben sich seit dem Ende des 19. Jahrhunderts verschiedene geopolitische Denkschulen entwickelt, die bei allen Unterschieden in einem Punkt einig sind: daß die Situation eines Staates im Raum keine Banalität ist.
Wenn dieser Sachverhalt in Rußland nach dem Kollaps der Sowjetunion auf besondere Aufmerksamkeit stieß, dann weil man den Verlust des Großmachtstatus, den Abfall der Satelliten und die Separatismen als „Raumrevolution“ verstand. Schon in seiner Botschaft vom 25. April 2005 hat Putin – damals bereits Präsident der Russischen Föderation – erklärt: „Vor allem gilt es anzuerkennen, daß der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte geopolitische Katastrophe des Jahrhunderts war. Für das russische Volk aber wurde er zum wirklichen Drama. Zehn Millionen unserer Mitbürger und Landsleute fanden sich außerhalb der Grenzen des russischen Territoriums. Die Epidemie des Zerfalls breitete sich auf Rußland selbst aus.“
Die Wiederherstellung des russischen Imperiums
Es ist heute unschwer zu erkennen, daß es Putin damit nicht nur um die Beschreibung eines Ist-Zustands ging, sondern um die Formulierung einer Aufgabe, die er auf weltanschaulicher Ebene vorbereitet hat – durch eine Geschichtsideologie, die nationalrussische und sowjetische Überlieferung integriert – und nun auf militärischer Ebene umsetzt: die Wiederherstellung des Imperiums. Welche Gründe auch sonst für die russische Aggression gegen die Ukraine genannt werden, im wesentlichen geht es um Putins Überzeugung von der Legitimität dieser Forderung.
Wer die anerkennt, unterwirft sich aber keineswegs objektiven Gegebenheiten, sondern akzeptiert eine bestimmte, eben die „Raumvorstellung“ Putins. Auf diesen Sachverhalt und die Tatsache, daß die Geopolitik keine Naturgesetze des Staatenlebens, sondern Rahmenbedingungen staatlichen Handelns analysiert, hat Albrecht Haushofer (1) schon zu Beginn der 1930er Jahre hingewiesen.
Die relative Offenheit geopolitischer Handlungsmöglichkeit wird im russischen Fall daran deutlich, daß das Land von seinem Kern um das alte Großfürstentum Moskau her zuerst die Ausdehnung nach Osten über Sibirien betrieben hat, womit sich sein Schwerpunkt nach Asien zu verlagern schien, um dann aber nach Westen und an verschiedenen Punkten nach Süden auszugreifen. Dahinter ist unschwer die die Generaltendenz eines Binnenstaates zu sehen, Zugang zu den Meeren zu gewinnen. Das war allerdings nur durch das gewaltsame Ausgreifen auf gigantische Räume möglich. Seit 1667 (nach der Abtrennung der Ukraine von Polen) sah sich auch Europa betroffen, und tatsächlich konnte Rußland bis 1945 (durch Schaffung des Ostblocks) seine Einflußzone um 2200 km nach Westen verschieben.
Raum als Voraussetzung, nicht als Determinante
Ein Vorgang, der keineswegs zwangsläufig war, sondern auf dem Willen russischer Führer – von Peter dem Großen über Stalin bis zu Andropow und Tschernenko – beruhte, als deren Erbe sich Putin betrachtet. Weshalb auch niemand ausschließen kann, daß er die Besetzung der Ukraine lediglich als ersten Schritt betrachtet und persönlich überzeugt ist, den Notwendigkeiten der Geopolitik zu folgen.
Eine solche Art gefährlicher Fixierung ist keineswegs neu. Karl Haushofer (2), der Vater Albrecht Haushofers und Nestor der deutschen Geopolitik zwischen den Weltkriegen, hat seinen Freund Rudolf Heß 1939 gebeten, ihm eine Audienz bei Hitler zu verschaffen. Tatsächlich kam es zu der Begegnung. Haushofers Ziel war es, Hitler deutlich zu machen, daß er seine Pläne – insbesondere die Angliederung des Sudetenlandes – nur unter außerordentlich günstigen Umständen und gegen jede geopolitische Wahrscheinlichkeit hatte verwirklichen können. Deshalb sei es aber um so dringlicher, nun den Ausgleich mit den übrigen Mächten zu suchen. Hitler wies Haushofer brüsk ab, ohne Zweifel, weil seine „Raumvorstellung“ eine andere war als Haushofers, aber eben auch, weil er glaubte, daß er eine historische Sendung erfüllen müsse, die durch die Geographie festgeschrieben sei.
Bei diesem Hinweis geht es nicht darum, irgendeine billige Parallele zwischen Hitler und Putin zu ziehen, sondern darum, deutlich zu machen, daß Geographie Politik nicht in absoluter Weise bindet. Es geht immer um Spielräume und deshalb auch um individuelle Verantwortung der Akteure. Im Fall des Raums ist es letztlich so wie im Fall anderer materieller Bedingungen unserer Existenz: Wir sollen sie als Voraussetzung, nicht als Determinante unseres Handelns begreifen.
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- Albrecht Haushofer (1903-1945), Dozent für Geographie, hatte – anders als sein Vater Karl Haushofer – von Anfang an schwere Bedenken gegen das NS-Regime, suchte dessen Führung aber zu beeinflussen. So auch Rudolf Heß, weshalb er an der Vorbereitung von dessen Englandflug beteiligt war. Gleichzeitig hatte Haushofer Verbindung zum konservativen Widerstand. Er wurde deshalb nach dem 20. Juli 1944 verhaftet und noch kurz vor Kriegsende am 23. April 1945 liquidiert. Albrecht Haushofer trat nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Schriftsteller und Dichter hervor; während seiner Gefangenschaft entstanden die Moabiter Sonette.
- Karl Haushofer (1869-1946), Generalmajor der bayerischen Armee, Geograph und Historiker, bedeutendster Vertreter der deutschen Schule der Geopolitik. Auf Grund seiner persönlichen Bekanntschaft mit Heß konnte Haushofer nach der Machtübernahme Hitlers auf Protektion rechnen, seine eigentlichen Zielvorstellungen – etwa die Einrichtung eines Lehrstuhls für Geopolitik – aber nicht verwirklichen. Eine Ursache dafür war, daß er nach den Kriterien der Nürnberger Rassegesetze mit einer „Halbjüdin“ verheiratet war, eine andere sein Bemühen, mäßigend auf die Spitze des Regimes einzuwirken. Auf Grund der Beteiligung seines Sohnes Albrecht Haushofer an der Widerstandsbewegung kam auch Karl Haushofer kurzzeitig in Haft, wurde aber noch vor Kriegsende freigelassen, dann allerdings von den amerikanischen Besatzungsbehörden unter Hausarrest gestellt. In der Nacht vom 10. auf den 11. März 1946 schied er mit seiner Frau gemeinsam aus dem Leben. Den Schritt begründete er in einem nachgelassenen Schreiben mit „unheilbare Trauer um das Schicksal von Land und Volk, dem ich vergeblich meine ganze Lebensarbeit geweiht hatte; und um den vorzeitigen Tod unseres Sohnes Albrecht, in dem ich den Erben meines wissenschaftlichen Werkes verloren habe“.