In Brüssel, Sitz der EU-Kommission und Tatort europäischer Politik, weiß manchmal die eine Hand nicht, was die andere tut. Während Ratspräsident Charles Michel 2022 zum „Jahr der europäischen Verteidigung“ erklärt, während Emmanuel Macron von der „strategischen Autonomie“ Europas träumt, basteln die Eurokraten still und heimlich an der sogenannten Taxonomie europäischer Rüstungskonzerne. Sie befassen sich mit der Frage, ob deren Geschäft als nachhaltig und ESG-konform einzustufen ist oder nicht. Anders ausgedrückt: ob die Produktion von Waffen gemäß der heutzutage üblichen moralischen Kategorisierung als gut oder böse zu gelten hat.
In der Rüstungsbranche läuten die Alarmglocken. Michael Schöllhorn, CEO von Airbus Defence and Space, sprach von einer Tendenz der EU, die Verteidigungsindustrie mittels der ESG-Kriterien zu „stigmatisieren“. Deutlicher wurde zuletzt Jens Lehmann, CDU-Bundestagsabgeordneter aus Leipzig und Mitglied im Verteidigungsausschuß des Bundestages. Er warnte: „Wenn die EU-Kommission die Sicherheitsindustrie nicht als nachhaltig klassifiziert, erfüllt die Branche die ESG-Kriterien nicht und muß mit schwerwiegenden Nachteilen bei Banken rechnen.“ Wenn die Bundesregierung nicht schnellstens gegensteuere, könne sie sich Zehntausende Arbeitslose auf die Fahne schreiben.
Was unter Taxonomie und ESG genau zu verstehen ist, bleibt oft unklar, weil mit solchen Etiketten gerne Schindluder getrieben wird und weil die Regulierungswut der Kommission nach Art eines Prozesses nie abgeschlossen ist. Offen ist auch noch, in welchem Ausmaß nach den börsennotierten Konzernen auch der Mittelstand betroffen ist.
Nachhaltigkeit als deutsche Erfindung
Der Begriff Taxonomie kommt vom lateinischen taxare (einschätzen) und dem griechischen nomoi (Gesetz, Rechtsverordnung). In der einschlägigen EU-Verordnung 2020/852 ist im Titel die Rede von der „Einrichtung eines Rahmens zur Erleichterung nachhaltiger Investitionen“. Ein erster Teil trat zum Jahresbeginn in Kraft. ESG wiederum, dessen Rahmenbedingungen noch nicht vollständig feststehen, geht über das Gebot der Nachhaltigkeit und des Umweltschutzes weit hinaus. E steht für „Environment“ und damit auch für Kohlendioxidemissionen. S betrifft soziale Fragen wie Arbeitsbedingungen oder auch Diversity. Und das Kürzel G meint „Governance“, worunter die verschiedenen Aspekte der Unternehmensführung zu verstehen sind.
Der erste Eindruck täuscht nicht: das meiste davon ist überflüssig. Für das S sind schon jetzt Betriebsräte und Gewerkschaften zuständig, sofern nicht ohnehin gesetzliche Regelungen vorliegen. Um das G kümmern sich die Aktionäre auf den Hauptversammlungen – eine schlecht geführte Firma erfreut niemanden, sie kann sogar pleite gehen. Und für das E sollten eigentlich die einschlägigen Gesetze und der Emissionshandel ausreichen.
Nachhaltigkeit als solche ist eine gute Sache, sie ist eine deutsche Erfindung. Sie wurde erstmals im 19. Jahrhundert in der deutschen Forstwirtschaft eingeführt und besagt ganz einfach, daß nicht mehr Bäume gefällt werden sollen als nachwachsen. Auch den Umgang mit privaten und staatlichen Schulden könnte man nachhaltig nennen, sofern nur so viele gemacht werden, wie zurückgezahlt werden können.
Dubios wird Nachhaltigkeit, wenn sie auf Wunsch der französischen Regierung der zivilen Nutzung der Kernkraft zugesprochen wird, nicht aber den Kohlekraftwerken, die preiswerten und risikolos erzeugten Strom liefern, auf Wunsch sogar CO2-frei, wenn das Gas abgeschieden wird. Völlig sinnlos ist es, die Herstellung von Rüstungsgütern als nachhaltig oder nicht nachhaltig klassifizieren zu wollen.
EU-Kommission wird nicht direkt eingreifen können
Was soll das heißen? Panzer mit Elektromotoren, die ständig aufgeladen werden müssen? Oder soll die Nachhaltigkeit davon abhängen, wofür die Waffen eingesetzt werden? Wenn es die EU ernst damit meint, in der Geopolitik mitzuspielen, wird sie mehr für die Verteidigung und vor allem für Forschung und Entwicklung auf dem Rüstungssektor ausgeben müssen. Hier jedenfalls läuft jede Taxonomie ins Leere.
Wir dürfen gespannt sein, ob die stets realpolitisch denkende Pariser Regierung die Brüsseler Bürokraten zur Räson bringt und wie der latent pazifistische Flügel der Bundesregierung darauf reagiert. Der stört sich ohnehin an deutschen Rüstungsexporten, ohne die die Branche finanziell aushungern würde. Annalena Baerbock meinte gar, die Stärke der Nato bemesse sich nicht in „Panzern und Raketen“. Sehr interessant. Und was ist von dem Anschlag auf den Bremer Raumfahrtkonzern OHB in der Silvesternacht zu halten? Die Linksextremisten, die laut Bekennerschreiben dahinterstehen, fühlen sich möglicherweise ermuntert, wenn solche Firmen auch noch amtlich als böse gebrandmarkt werden.
Natürlich wird die EU-Kommission ebenso wenig direkt in die Rüstungsproduktion eingreifen können wie in den Energiemix Deutschlands oder Frankreichs. Es geht um etwas anderes, nämlich um Geld. Unternehmen mit der offiziellen Nachhaltigkeitsbescheinigung werden sich am Kapitalmarkt günstiger und leichter finanzieren können als solche ohne das Siegel. Dafür sorgen schon die Banken. Der Zweck der ganzen Taxonomie besteht ja darin, die Geldflüsse in die gewünschte Richtung zu lenken.
Und dabei spielt die Finanzindustrie zusammen mit der parasitären Beratungsbranche jetzt schon in vorauseilendem Gehorsam mit. Sie wittert ein Geschäft und rührt die Trommel für ESG-Anlageprodukte. Die Verluste, die deutsche Investoren mit insolventen Windenergie- und Solarfirmen eingefahren haben, sind längst vergessen. Was grün aussieht, muß nicht nachhaltig sein.
Von der Europäischen Union sagt man, sie hätte wegen ihres Demokratiedefizits keine Chance, in die Europäische Union aufgenommen zu werden. Bei einer ESG-Prüfung fiele sie ebenfalls durch: ihre Schuldenwirtschaft ist weit davon entfernt, generationengerecht und nachhaltig zu sein.
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Bruno Bandulet war Chef vom Dienst der „Welt“ und ist Herausgeber des „Deutschland-Briefs“.
JF 3/22