In einem Meinungsbeitrag in der JUNGEN FREIHEIT veröffentlicht Martin Wagener eine Analyse zur gegenwärtigen Situation der Corona-Pandemie, in deren Kern er seine Forderung nach dauerhafter Abschottung Deutschlands durch Errichtung einer „postmodernen Grenzanlage“ erneuert. Die Fähigkeit zur Grenzkontrolle gegenüber Virusmutationsgebieten 2021 wird hierbei verknüpft mit dem Argument eines angeblichen Kontrollverlusts nach der Flüchtlingskrise 2015. Ein effizientes Grenzregime ist aus Sicht Martin Wageners das Mittel der Wahl zur Bewältigung beider Krisen. Diese provokante These ruft Widerspruch hervor.
Zur Erinnerung: Vor etwa einem Jahr veröffentlichte derselbe Autor in einem frühen Stadium der Corona-Pandemie einen Artikel, in dem er auf völlig unqualifizierter Datenlage „2,2 Millionen“ oder sogar „4,2 Millionen“ mögliche Tote in Deutschland prognostizierte und mit schlankem Fuß den Einsatz der Bundeswehr im Inland forderte „zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung“ – und hiermit war keineswegs die Amtshilfe bei der Kontaktnachverfolgung in Gesundheitsämtern gemeint (Björn Lakenmacher / Martin Wagener, „Unvorbereitet auf den schlimmsten Fall“, in: Cicero, 16. März 2020).
Was lernen wir daraus? Selbsternannte Experten haben mitunter keine Ahnung! Dan Gardner (in „The Future Babble“) stellte dies bereits 2010 überzeugend und unterhaltsam dar: Sie befüllen Meinungsseiten und Talkshows, aber kaum jemand in der Öffentlichkeit erinnert sich an ihre nicht eingetretenen Vorhersagen. Sie bleiben irrelevant. Ihr Ziel ist Selbstdarstellung, Provokation und Alarmismus, nicht jedoch Problemlösung.
Fernab der Lebensrealität
Der Weg der Grenzschließung ist genau der falsche Weg: Er bewirkt immensen politischen Schaden und ist aller Wahrscheinlichkeit nach ungeeignet, eine Ausbreitung der gefährlichen Virusmutationen wirksam zu unterbinden. Die Mutationen sind zum Zeitpunkt der Grenzschließung längst schon in Deutschland angekommen. Nicht Nationalismus und Abschottung, sondern ein gemeinsames, grenzüberschreitendes Handeln in den betroffenen Regionen wäre der zielführende Weg. Und eben gerade kein „Egoismus in Notlagen“ (Martin Wagener im Beitrag von 2020).
Die Verbindung dieser Argumentation mit dem Argument der inneren Sicherheit und „Terroristen, Gewaltverbrechern, Schleusern, Schmugglern und anderen Kriminellen“ ist allzu durchschaubar. Das Projekt einer postmodernen Grenzanlage (die sich – man kann dies im Buch „Deutschlands unsichere Grenze“ von 2018 nachlesen – letztlich auf reichlich klassische Mittel der Repression beschränkt) dürfte nur in den Köpfen einzelner eine bessere Welt schaffen. Das Bild einer grundsätzlich unveränderten Bewegungsfreiheit für „Pendler, Unternehmer, LKW-Fahrer, Studenten und Touristen“ ist bereits in der jetzigen Situation einer nur teilweisen Grenzschließung nach Tirol und Tschechien eine Verhöhnung der tatsächlichen Folgen und mindestens verharmlosend.
Wer sich in den Grenzregionen aufhält, bekommt mit, wie schwer die jetzige Situation auf den Menschen in den eng miteinander verwobenen Regionen lastet – faktisch, psychisch und wohl auch politisch. Noch nicht auszumalen ist, welche langfristigen Folgen sich bei Anhalten der Situation für den europäischen Zusammenhalt und letztlich auch Sicherheit und Wohlstand ergeben. In der Abgeschiedenheit des Gelehrtenschreibtischs mag man mit solchen Lebensrealitäten wohl kaum konfrontiert sein.
Kein Experte alleine kennt den richtigen Weg
Anlaß für Kritik am politischen Handeln gibt es dabei durchaus. Die hektische Verhängung einer Grenzsperrung durch den Bundesinnenminister, Durchlässigkeit zunächst nur für deutsche Staatsbürger und wenige weitere Ausnahmen – und erst allmähliche Lockerung für bestimmte Pendlergruppen in den folgenden Tagen, ist politisch unklug und handwerklich nicht gut gemacht. Die überfällige Ankündigung kostenloser Schnelltests für alle durch den Bundesgesundheitsminister und Rücknahme wenige Tage später untergräbt das Vertrauen in die Krisenlösungskompetenz der Regierung. Letztlich zeigt dies jedoch vor allem, unter welchem immensen Druck die Handelnden stehen. Das Ringen um den richtigen Weg aus der Krise ist – für alle sichtbar – extrem schwierig. Der Raum für politische Debatte ist hier definitiv eröffnet.
In der besonderen Situation der Pandemie muß es dabei statthaft sein, auch ansonsten bestehende Tabuthemen zu hinterfragen. Hier besteht durchaus Konsens mit Martin Wagener. Vorrangiges Ziel der Politik zur Bewältigung der Krise ist die Wiederherstellung und Sicherung der öffentlichen Gesundheit (des „Rechts auf Gesundheit“). Andere bestehende Rechte können dem vorübergehend und unter bestimmten Voraussetzungen sowohl aus rechtlicher als auch aus politischer oder ethischer Sicht durchaus untergeordnet werden.
Nicht alles am derzeitigen Erfolgsbeispiel Israel mag hierbei als Vorbild dienen: Die Kontrolle der Einhaltung häuslicher Quarantänepflichten durch den Inlandsnachrichtendienst war schon in Israel strittig und wäre in Deutschland aufgrund seiner anderen historischen Erfahrung mit Inlandsgeheimdiensten nicht umsetzbar. Die Organisation der Impfkampagne durch die israelischen Krankenkassen mit Zugriff auf die Patientendaten erscheint angesichts der Beschränktheit des datenschutzrechtlichen Eingriffs und des damit erzielten immensen Effizienzerfolgs einerseits und des eher schleppenden Fortschritts der Impforganisation hierzulande andererseits als pragmatisch und beispielhaft.
Kein Experte alleine kennt den richtigen Weg. Und daher ist es gut, daß darum gestritten wird – inzwischen nicht mehr nur unter Virologen, Epidemiologen und Politikern, sondern auch unter Juristen, Ethikern und Ökonomen. Der schlechteste Fall jedoch ist der Politologe, der die Lage für seine eigene Agenda instrumentalisiert – und für seine Vorstellung von Grenzschließung, Abschottung und nationaler Kleinlichkeit. Der Sache dient er damit nicht. Dem Wohl des Gemeinwesens erst recht nicht.
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Prof. Dr. Christian Haas und Prof. Dr. Markus Denzler lehren – wie ihr Kollege Prof. Dr. Martin Wagener – am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung (Berlin).
> Stellungnahme von Prof. Dr. Martin Wagener zu den Vorwürfen seiner Kollegen.