Während sich das Augenmerk der deutschen Öffentlichkeit auf die „unbegleiteten“, „minderjährigen“ „Flüchtlinge“ richtet, die in Hannover als Vorboten der nächsten Asylumsiedlung gelandet sind, formiert sich im Südosten Europas die nächste Migrationswelle in die deutschen Sozialsysteme. Die Aufnahme von EU-Beitrittsgesprächen mit Albanien und Nordmazedonien stellt die Weichen, um den anhaltend hohen Migrationsdruck aus dem Westbalkan in das noch immer grenzenlos offene Deutschland zu kanalisieren.
Per Videokonferenz haben die EU-Europaminister mitten in der Corona-Krise beschlossen, die Beitrittsverhandlungen mit zunächst zwei Westbalkan-Ländern nicht länger aufzuschieben. Eine „Beitrittsperspektive“ haben auch die anderen Länder der Region – Kosovo, Bosnien-Herzegowina, Serbien und Montenegro. Was der Bundesaußenminister als „Ermutigung“ und „überfällige Anerkennung“ von „Reformleistungen“ feiert, sollte der Bundesregierung viel eher Sorgenfalten und Angstschweiß auf die Stirn zeichnen.
Denn am Ende wird es kaum eine Rolle spielen, wie intensiv man auf „Reformen“ bei Rechtsstaatlichkeit und Korruptionsbekämpfung gepocht hat, welche neuen bürokratischen Überwachungsinstanzen man dafür geschaffen hat und wie genau man diesmal hinschauen will. Einmal in Gang gesetzt, wird der Beitrittsprozeß kaum mehr gestoppt, allenfalls noch verzögert werden.
Das ökonomische Gefälle kann keine Umverteilung überbrücken
Das enorme soziale und ökonomische Gefälle zu den Wohlstands- und Wohlfahrtsstaaten des Nordens kann keine Umverteilung auf europäischer Ebene überbrücken, und den kulturellen Graben, den die jahrhundertelange osmanische Fremdherrschaft durch den europäischen Südosten gezogen hat, schüttet kein EU-Beitritt einfach so zu. Das konnte man schon aus der Aufnahme Bulgariens lernen.
Die alles entscheidende Frage ist daher die EU-weite Freizügigkeit für Personen und Arbeitnehmer. Dieses Dogma, von dem die EU nicht lassen kann, enthält das Versprechen erleichterter Migration auf der Suche nach einem besseren Leben; die Regierungen der betreffenden Länder können sich vom Export der Armen, Frustrierten und Perspektivlosen und von deren Rücküberweisungen aus Sozialtransfers und Arbeitseinkommen an ihre Familien in der Heimat Minderung des gesellschaftlichen und ökonomischen Drucks erwarten.
Der Migrationsdruck hat sich auch bisher schon Wege gesucht. Der Mißbrauch des großzügigen deutschen Asylsystems ist die naheliegendste Verlockung. Wer routinemäßig abgelehnt wird, kann mit Kniffen und Listen viele Monate in Deutschland bleiben, erhält Unterkunft, Versorgung, Taschengeld und nicht zuletzt die begehrte medizinische Versorgung. Und wer einer möglicherweise doch drohenden Abschiebung durch „freiwillige Ausreise“ zuvorkommt, kann selbst dafür noch finanzielle „Rückkehrhilfen“ kassieren, die er für die nächste Einreise gleich wieder nutzen kann.
Hunderttausende sitzen auf gepackten Koffern
Der offene Mißbrauch war über Jahre bekannt. Vor allem Zigeuner vom Volke der Roma nutzten die Lücke gerne, um sich zumindest ein warmes Winterquartier in Deutschland zu verschaffen. Um den während der Asylkrise 2015 sprunghaft angestiegenen Asylmißbrauch einzudämmen, wurden schließlich erleichtert „Arbeitsvisa“ für Einwohner der Westbalkanstaaten erteilt.
Die Zahl wuchs von Jahr zu Jahr und hat sich von 2015 bis 2019 auf 65.000 fast verdreifacht. Schon jetzt werden in steigendem Maße Familiennachzugsvisa vergeben. Auch wer keine Arbeit findet oder überhaupt ernsthaft sucht, findet über Umwege, etwa als Pseudoselbständiger und Hartz-IV-Aufstocker, schnell ins Sozialsystem.
Hunderttausende sitzen auf gepackten Koffern. Fast zweihunderttausend Anträge wurden bislang gestellt. Derzeit werden noch Visa für Anträge vom November 2017 erteilt – was aus den noch unbearbeiteten Anträgen wird, wenn die Regelung im Dezember ausläuft, ist noch offen. Der Ansturm wird sich bis Jahresende mit Sicherheit noch verstärken. Kommt es zum EU-Beitritt Albaniens, Nordmazedoniens und weiterer Westbalkanländer, wird daraus eine Sturmflut. Solange die Freizügigkeit gilt, werden Übergangsregelungen wie bei bisherigen Beitrittsverfahren auch den Zuwanderungsdruck in die Sozialsysteme allenfalls zeitlich strecken, aber nicht wegnehmen können.
Das könnte dem deutschen Lastesel den Rest geben
Das Vorantreiben der Aufnahmeverfahren für die Westbalkanstaaten wird gerne mit dem wachsenden Engagement Chinas begründet, dem man den eigenen EU-„Innenhof“ nicht überlassen wolle. Strategisch ist das sicher nicht falsch. Doch Chinas Expansionspolitik achtet bei jeder Investition auf das Verhältnis von Kosten und Ertrag. In der EU steht dagegen das Dogma über der ökonomischen Vernunft.
Bereits aus früheren Beitrittsrunden hätte man den Schluß ziehen können, daß Vertiefung und Erweiterung der EU zugleich zu vertretbaren Kosten nicht zu haben sind. Je weiter der Kreis der Mitglieder und je größer die volkswirtschaftlichen und sozialen Unterschiede, desto weniger kann harmonisiert werden, desto größer muß die Eigenständigkeit der einzelnen Mitglieder sein.
Eine EU, die perspektivisch ganz Europa umfassen soll, kann vernünftigerweise wenig mehr als eine Freihandelszone sein. Die Briten, die dieses Konzept bevorzugen, hat man gerade ziehen lassen. Statt dessen schickt man sich an, die EU um ein ganzes Bündel von Neumitgliedern zu erweitern, die Transferumverteilung und Sozialmigration in neue, absurde Höhen treiben werden. Auch ohne die Folgen der Corona-Krise ist das eine Bürde, die dem deutschen Lastesel den Rest geben könnte.