„Anarchie ist machbar, Herr Nachbar.“ So lautete der bekannteste Slogan der Spontis, jener antiautoritären, nonkonformistischen Strömung innerhalb der APO, die zur Keimzelle der Grünen wurde. Viele lachten über den Klamauk. Das rein zufällige, gerade deshalb stark reglementierte Verhältnis zum Nachbarn der Rechtlosigkeit zu unterstellen, schien im Land der Kehrwoche und sauberen Rasenkante ein abseitiger Witz. Daß in Deutschland nichts abseitig genug ist, um nicht doch verwirklicht zu werden, hatte man vergessen.
Diese Erfahrung macht gerade Berlin. Das links-grüne Programm der Anarchie qua Verwahrlosung greift. Ob Justiz, Polizei, Verwaltung – kaum etwas funktioniert. Schulen und Straßen sind in miserablem Zustand, bei Temperaturen unter Null bricht der öffentliche Nahverkehr regelmäßig zusammen. Auf Behördentermine wartet man Wochen, im Krankenhaus oft viele Stunden auf einen Arzt.
Wer privat einen Pkw anmelden will, bedient sich besser privater Vermittlungsdienste. Daß ein Lufthansa-Vorstand nach der sechsten Verschiebung des Eröffnungstermins empfahl, den Berliner Flughafen BER abzureißen und völlig neu zu planen, ist bezeichnend. Auch sein Vertrauen in die Berliner Politik und ihre Mischung aus Wurstigkeit, fachlichen Defiziten und Rücktrittsresistenz ist erschöpft.
Milliarden für Illegale
Seit Ende März protestieren und demonstrieren nun die Feuerwehrleute vor dem Berliner Rathaus. Auch sie sind, wie Polizei, Justiz, Rettungssanitäter oder Krankenhauspersonal, totgespart. Rund tausend Stellen sollen fehlen, viele Mitarbeiter haben mehrere hundert Überstunden. Einsatzwagen sind veraltet, die Navigationsgeräte so rückständig, daß die Züge, die wegen Schließung von Feuerwachen immer weitere Strecken fahren müssen, zuweilen nicht den schnellsten Weg zum Brand finden. 40, 50 Wochenenddienste im Jahr sind für Feuerwehrleute keine Seltenheit, bei einer Entlohnung von monatlich knapp über 1.000 Euro kommen Anwärter nur mit Wohngeld über die Runden; auch nach vielen Dienstjahren liegt die Entlohnung nicht sehr weit über Hartz-IV-Niveau.
Gleichzeitig gibt Berlin Milliarden für Illegale aus, allein 2016 rund 940 Millionen. Doch die Einwanderer sind nicht der primäre Grund der Verwahrlosung; sie verschärfen das Chaos lediglich zur Sichtbarkeit. Konnten sich die bisherigen Senate, gestützt vom Länderfinanzausgleich, munter durchwursteln, wird jetzt unübersehbar: Die Verwaltung ist am Ende. Über Jahre ein Hort der Doppelstrukturen, verschachtelter Zuständigkeiten und der negativen, politisch motivierten Personalauswahl, ist sie fachlich auf den Hund gekommen. Daß manche Behördenleiter ihr Haus kurz nach 14 Uhr verlassen, sei keine Seltenheit. Auch in den staatlichen Institutionen Berlins herrscht rot-grüne Work-Life-Balance.
Berlin ist ein „failed state“
Was man einst behauptete, um im Widerspruch Beruhigung zu finden, ist nun Realität: Berlin ist ein „failed state“. Augenfällig wird dies vor allem im Nahverkehr, letzte Woche das Großthema der Stadt. Eine 66jährige berichtete im Tagesspiegel über ihre Erfahrungen mit U- und S-Bahn: offener Drogenhandel, aggressive Bettelei an der Grenze zur räuberischen Erpressung, laute Musik; dazu Antanzerei, Taschendiebstahl, Schlägereien. Nachts auf vielen Stationen Horden kampierender Migranten, die kiffen, saufen und unbeirrt ihre Notdurft verrichten. Rauchschwaden und bestialischer Gestank. Und nirgends Sicherheitsleute oder Polizei.
Der Bericht traf einen Nerv. Über 600 Leser kommentierten, fast alle zustimmend. Der Berliner Nahverkehr sei für Kinder und ältere Menschen eine No-go-Area, besonders in den Abendstunden. So zwinge ausgerechnet Rot-Rot-Grün viele Berliner, wieder aufs Auto umzusteigen.
Oder jedenfalls die, die es sich leisten können und deren Wagen nicht Fahrverboten unterliegen. Wieder einmal trifft linke Politik vor allem Ärmere. Sie sind, nunmehr im buchstäblichen Sinn, immer die ersten Opfer. Daß Berlin zugleich wesentliche Verkehrsadern zu Tempo-30-Zonen erklärt, Parkflächen vernichtet und die berüchtigte Parkraumbewirtschaftung ausweiten will, ergänzt die rot-rot-grüne Klassen-Politik. Sicherheit wird zur Frage des Geldes.
Längst ein soziales Problem
So ist die Verwahrlosung Berlins längst ein soziales Problem – verursacht von jenen, die einst die ‘soziale Frage’ aufwarfen. Doch auf Abhilfe ist nicht zu hoffen. Denn hinter der Erosion der öffentlichen Ordnung steht eine Frage, die kein Linker berühren mag: welchen Preis der Freiheit die multikulturelle Gesellschaft erfordert.
Kulturell homogene Gesellschaften haben, statistisch vielfach belegt, geringe Sicherheitskosten. Dort sind die Regeln des Umgangs selbstverständlich. Man weiß, was man tut, und man weiß, was man läßt. Polizisten sind eher Streitschlichter als Repressionsorgan. Deshalb sind liberale, noch mehr libertäre Gesellschaften nur in kulturell homogenen Räumen möglich. Dagegen erfordert Multikulti immer die harte Hand des Staates. Daß die USA, die klassisch multikulturelle Gesellschaft, auf Bedrohungen der öffentlichen Sicherheit extrem harsch reagieren, ist kein Zufall. Multikulti erfordert den Polizeistaat.
Eine einfache Wahrheit. Nur nicht für Berlin. Statt die Polizei massiv aufzurüsten und jede Verletzung der öffentlichen Ordnung rigoros zu ahnden, tut der Senat, als befinde man sich in der homogenen Honoratiorengesellschaft des 19. Jahrhunderts. Auch das ist typisch links: unbeirrt in Träumen von gestern leben, aber sich ganz als Avantgarde fühlen – wenn auch auf dem Weg ins Mittelalter.
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Dr. Nicolaus Fest ist Jurist und Journalist. Der frühere stellvertretende Chefredakteur der Bild am Sonntag trat in Berlin für die AfD zur Bundestagswahl an.
JF 16/18