Kein ungeschickter Schachzug: Indem Sigmar Gabriel Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidat vorschickt, präsentiert er einen Mann, der zwar von der Ideologie der Brüssel-EU, nicht aber von den (Un)taten der Großen Koalition befleckt ist. Flux hat der Neue sich sein künftiges Selbstverständnis zurechtgelegt.
Fernab des akademisch durchwachsenen Parteiprogramms wird er seinen Wahlkampf führen, stolz darauf, von einfachen Leuten abzustammen, „die Mutter Hausfrau“, wie er während seiner Antrittsrede betonte – keine(r) der promovierten Parteiintellektuellen monierte das ach so rückständige Frauenbild, das sich im Sohnesstolz des neuen Mannes an der Spitze verbirgt.
Nun steht also wieder die Familie im Mittelpunkt, schuftende Eltern, deren Einkommen kaum hinreicht, den Kindern einen Start in die Zukunft zu sichern. Unterbesetzte Polizeidienststellen, überfütterte Banken, marode Straßen und Schulen – davon redet nach fast vier Jahren Großer Koalition ein Sozialdemokrat! Es geschehen noch Zeichen und Wunder.
Schulz als Bollwerk gegen Rechts
Mit einem Wort, und das wurde bei Anne Will am Sonntag abend klar: Auch das Establishment hat seinen Populisten gefunden. Soll die Merkel weiter an ihre urbanen Mittelschichten glauben, an die Schöner-Wohnen-Leser in ihren Hybridautos, nein, seit Sonntag setzen die öffentlich-rechtlich Bestallten nicht länger auf Schwarz-Grün, sondern auf R2G. Auf Rot-Rot-Grün.
So schön es gewesen sein mag mit den Veganern oder den gepflegten Emanzipations- und Inklusionsbewegten vom Prenzlauer Berg bis Schwabing – die Angst vor Altersarmut treibt auch die Medienbranche, wenn sie sich vorstellt, die Rechten kämen und schafften den Staatsfunk ab. Da sei der Herrgott vor, ob man an ihn glaubt oder nicht.
Anne Will, die Schulz präsentierte wie die Aktuelle Kamera Ende 1989 Egon Krenz (damals ging es um die Rettung der DDR), war nur der Auftakt. Ein, zwei Landtagswahlen mit passablen SPD-Ergebnissen, dann stehen nur noch die Lordsiegelbewahrer des Kanzleramts um Angela Merkel. Dann hat das Bollwerk gegen Rechts einen neuen Namen: Martin Schulz.
So schnell vergißt der Wähler nicht
Ob die Rechnung aufgeht, steht auf einem anderen Blatt. Die Linke, egal ob rot, dunkelrot oder grün, setzt darauf, daß es soziale, im Grunde wirtschaftliche Faktoren sind, die bei Wahlentscheidungen den Ausschlag geben. Die Rechten halten dagegen: Identität, Zugehörigkeit, Gemeinschaft, Vaterland. Nicht in erster Linie Materielles.
Zum Thema der Fremden im eigenen Land verlor Schulz am TV-Abend bei Frau Will kein Wort. Oder doch: Er lobte die Bürgerinitiativen, die Willkommenskultur. Doch das haben vor ihm genug andere getan, ohne daß es Wirkung gezeigt hätte.
Daß Schulz die nötigen Wählerprozente reißt, ist noch lange nicht ausgemacht, auch (oder erst recht) wenn die Medien ihm vollen Rückhalt gewähren. Das Wahlvolk, sowenig es in der Lage sein mag, komplexe Zusammenhänge nachzuvollziehen, besitzt immer noch so etwas wie Erinnerungsvermögen. Sogar jene, die Schulz’ Vorgänger als „Pack“ zu bezeichnen beliebte.
Erinnerungen etwa an den Martin Schulz, der als Super-Europäer jahrelang das Geschäft der Globalisierer, Multinationalen und Supranationalen betrieb. Und der uns jetzt mit den Doppelverdienern in Würselen kommt, denen das Netto nicht zum Leben langt.