So lenkt man Demokratie: Nach der Schlappe von 2011 (eine undurchsichtige Rochade an der Staatsspitze in Kombination mit durchsichtigen Wahlmanipulationen) wollten die Politiktechnologen im Kreml bei der jüngsten Duma-Wahl zeigen, wie man das Ganze mit Fingerspitzengefühl exekutiert. In der Tat gingen die Wahlen am Sonntag still und leise über die Bühne, mit TV-Krimi statt Wahlnachlese im Abendprogramm. Bei einer Wahlbeteiligung von nicht ganz 48 Prozent fuhr die Regierungspartei „Einiges Rußland“ laut dem offiziellen Ergebnis eine satte Zwei-Drittel-Mehrheit von 343 (2011: 238) der 450 Parlamentssitze ein.
Zweifelsohne hat der Kreml von den Umständen profitiert. Der Kiewer Putsch im Februar 2014, die Annexion beziehungsweise der Anschluß der Krim und die bis heute schwelende Ukrainekrise, der offene Informationskrieg mit dem Westen und das erfolgreiche Syrien-Engagement der russischen Streitkräfte haben das gesellschaftliche Klima verändert. Die wirtschaftliche Lage mag noch so drücken – viele Russen sollen sich in dem Bewußtsein: Wir sind wieder wer.
Wahlrecht half Regierungspartei
Außerdem half der Regierungspartei ein Wahlrecht, das sich aus britischen und deutschen Elementen zusammensetzt. Die eine Hälfte der Mandate errechnet sich nach dem Verhältniswahlrecht, die andere besteht aus Direktmandaten. Wie jedes Direktwahlsystem, bevorzugt auch das russische die stärkste Partei. „Einiges Rußland“ heimste am Sonntag 79,6 Prozent der Wahlkreise ein. Insgesamt erhielt die Partei offiziell 54,2 Prozent der Stimmen und kommt damit auf 76,2 Prozent der Parlamentssitze (wegen der verlorenen Stimmenanteile der zehn nicht ins Parlament eingezogenen Parteien gilt hier kein rechnerischer Durchschnitt).
Wie bei jeder russischen Wahl kam es auch am vergangenen Sonntag zu einer Vielzahl von Manipulationen und Regelverstößen. Strittig ist deren Umfang und Einfluß. Offiziell – nach den Erfahrungen vor fünf Jahren – hatte der Kreml dieses Mal „saubere“ Wahlen angeordnet. Gleichzeitig ergingen klare Vorgaben an die Gebietsoberen der 85 Föderationssubjekte. Jeder Regionschef wußte, daß der Wahlausgang sein Schicksal bestimmen würde.
Schon vorher auf gewünschtes Ergebnis freuen
Seit der Wiedereinführung der Gouverneurswahlen unter Präsident Dmitri Medwedjew bedarf jeder Kandidat eines Placets aus Moskau. Das System erlaubt die Quadratur des Kreises: Der Kreml gibt ehrliche Wahlen vor und kann sich schon vorher, ohne sich die Finger schmutzig zu machen, auf das gewünschte Ergebnis freuen.
Noch am Montag hat die Föderale Wahlbehörde unter Leitung der früheren Menschenrechtsbeauftragten Ella Pamfilowa die Wahlen in drei Wahlkreisen für ungültig erklärt. Vor allem geht es um die Regionen Rostow am Don und in Nischny Nowgorod. Überwachungskameras hatten aufgezeichnet, wie Mitglieder der Wahlkommission fingerdicke Stapel mit Wahlzetteln in die Urnen stopften – seit Montag früh sind die Aufnahmen im Internet abrufbar.
Wirkliche Wahlbeteiligung nur 37 Prozent
Inzwischen wurden aber auch andere Stimmen laut. Der Physiker Sergej Schpilkin hatte schon 2011 darauf hingewiesen, daß einzelne Wahllokale eine besonders hohe Beteiligung und ein besonders hohes Ergebnis der Regierungspartei vorwiesen. Er errechnete für die Wahl am Sonntag eine wirkliche Beteiligung von nur 37 Prozent – demnach wären 5,7 Millionen Wahlzettel illegal in den Urnen gelandet. Schpilkins „korrigiertes“ Wahlergebnis: Nicht 54, sondern nur 40 Prozent für Einiges Rußland.
Jetzt kommt es zunächst auf den Präsidenten an. Entscheidet er sich für eine Liberalisierung der Wirtschaft, für mehr Rechtsstaatlichkeit zumindest in ökonomischen Belangen und für die industrielle Diversifizierung weg von der notorischen Rohstoffabhängigkeit? In der Unternehmerschaft hoffen das viele. Oder folgt die gegenteilige Variante: Wagenburg, Kriegswirtschaft, Gürtel enger schnallen, Durchhalten im Konflikt mit dem Westen?
Ernennung zum Ministerpräsidenten entscheidet
Wie es weitergeht, wird spätestens bei der Ernennung des neuen Ministerpräsidenten offenbar. Ein Alexej Kudrin an der Regierungsspitze, Finanzminister der ersten Putin-Jahre, wäre ein Sieg für die Wirtschaftsliberalen, ein Dmitri Rogosin für die Hardliner der Kriegswirtschaft. Dmitri Medwedjew, Putins getreuer Eckart, repräsentiert den wenig wahrscheinlichen Mittelweg; seine Ablösung wird erwartet.
Eine Tatsache, die auch dann gilt, wenn der Wahlkritiker Schpilkin recht haben sollte, ist das faktische Verschwinden der liberalen, nach westlichen Vorstellungen demokratischen Opposition. Abgesehen von einem dünnen urbanen Mittelstand spielt der Westen als politisch-ideologische Orientierung keine Rolle mehr. Mit der einseitigen Parteinahme im ukrainischen Bürgerkrieg haben vor allem die Europäer ihr Gesicht verloren.
Russischer Nationalist mit Zukunft
Die Partei Jabloko, immer noch angeführt vom unermüdlichen Grigori Jawlinski, sicherte sich zwar in den Hauptstädten Moskau und St. Petersburg offiziell jeweils über neun Prozent, spielt jedoch landesweit keine Rolle. Das gleiche gilt für ihre Konkurrentin Parnass. Die Protagonisten der liberalen Opposition, allen voran Jawlinski und Michail Kosjanow, sind seit Jahren zerstritten und opfern den politischen Erfolg ihrer Eitelkeit.
Alexej Nawalni, der Korruptionsjäger und Oppositionsführer mit dem derzeit stärksten Charisma, hält als russischer Nationalist Distanz zum pro-westlichen Lager. Er ist gerade einmal 40; sein Blick geht weit über 2016 hinaus.