Die letzte Note ist geschrieben, das letzte Zeugnis ausgeteilt, die letzte öde Stunde mit Projektarbeit, Filmvorführung, Dauerfrühstück oder Crêpesbacken statt Unterricht überstanden, die Schulen leeren sich, die Autobahnen, Züge, Flughäfen füllen sich. Sommerzeit, Ferienzeit, Sauregurkenzeit, Zeit für die Bildungsdebatte.
Die FAZ führt sie schon seit ein paar Wochen in den Spalten ihres Feuilletons und hat auch noch aufgedeckt, wie die Bestnoteninflation zu erklären ist und welche Tricks angewendet werden, um den Abiturdurchschnitt schönzurechnen, damit den eigenen Landeskindern der Sprung über die Numerus-clausus-Hürde leichter fällt.
Eine Vergleichbarkeit der Reifeprüfung erarbeiten
Die jüngsten, noch ein gewisses Aufsehen erregenden Nachrichten des Sektors betrafen weibliche Hosenlängen beim Schulbesuch; die Warnung der Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Neukölln, Franziska Giffey (SPD), an Mädchen mit orientalischem Migrationshintergrund vor der Zwangsverheiratung angelegentlich der Reise in die alte Heimat.
Ferner die Demontage des finnischen Pisa-Wunders, das Scheitern des von der schwarz-grünen Koalition in Hessen etablierten Bildungsgipfels; die Vorstellung der Grundschulzeugnisse ohne Zensuren durch die Kultusministerin von Schleswig-Holstein, Waltraud Wende. Und die Erklärung ihres Kollegen in Mecklenburg-Vorpommern, Mathias Brodkorb, daß man an der Vergleichbarkeit der Reifeprüfungen arbeiten müsse, was nur durch die Festlegung von Inhalten und Fixierung von Standards bei Korrektur und Bewertung möglich sei.
Das bessere Argument spielt keine Rolle
Was die letzten Wortmeldungen aufschlußreicher als die übrigen macht, ist nicht nur, daß Wende und Brodkorb trotz beider SPD-Mitgliedschaft entgegengesetzte pädagogische Leitvorstellungen – Ablehnung des Leistungsprinzips hier, ausdrückliche Anerkennung dort – vertreten, sondern auch, daß sie deutlich werden lassen, warum alle Diskussionen über das deutsche Bildungswesen so fruchtlos sind, ganz gleich, ob es um frühkindliche Förderung, Integration oder die Kenntnis der Grundrechenarten bei Lehrlingen, um Krippe, Kindergarten, Schule oder Hochschule geht.
Dies rührt daher, daß das bessere Argument keine Rolle spielt. Anders ist nicht zu erklären, warum seit vierzig Jahren mit solchem Erfolg die Demontage des Systems vorangetrieben werden kann, für die es nur eine einzige, fadenscheinige Rechtfertigung gibt: den Egalitarismus, den zwanghaften Wunsch, Unterschiede zu beseitigen und Ununterscheidbarkeit zu erreichen.
Schule als Transmissionsriemen der Weltverbesserung
Daher die Begeisterung für die Schule als Transmissionsriemen der Weltverbesserung, daher die Unduldsamkeit gegenüber allem, was die Erzeuger an abweichenden Vorstellungen mitgegeben haben. Daher vor allem die Verbissenheit der offenen oder verdeckten Angriffe auf die Gliederung der Schulformen, daher der immer weiter wachsende Druck auf die Lehrerschaft, jeden bis zum Abitur zu führen, alles zu dokumentieren, nur gute Noten zu erteilen, keinen „zurückzulassen“.
Daher das Ködern der Eltern mit dem Versprechen, daß auch ihr Kind, wie begrenzt in seinen Fähigkeiten und seiner Anstrengungsbereitschaft immer, den gewünschten Berechtigungsschein für den Besuch der Universität erhalten werde. Wo sich dann der Irrsinn mit der Unterwerfung der Wissenschaft unter sachfremde Vorgaben, bürokratischen Wust, Finanzierungszwänge, Evaluationen nach ökonomischen Prinzipien, Gendergängelungen fortsetzt und zu nichts anderem führt als dem massenweisen Ausstoß von mehr oder weniger qualifizierten Absolventen.
Kostspieliges und ineffizientes Modell
Das alles ist lange und sattsam bekannt, empirisch immer wieder überprüft und jedem Menschen guten Willens einsichtig. Ein Tatbestand, auf den Brodkorb seine Hoffnung setzt. Vergeblich, wie man fürchten muß, wie er wahrscheinlich selbst fürchtet, wenn er den Blick auf andere Initiativen richtet, die er in der Vergangenheit ergriffen hat – in bezug auf die Inklusion Behinderter an den Regelschulen, die notwendige Korrektur des Bologna-Prozesses an den Universitäten –, um der Stimme der Vernunft Gehör zu verschaffen. Denn gegen die Entschlossenheit, mit der alle Verantwortlichen ihre Ohren verstopfen, wurde bisher kein Mittel gefunden.
Das zu erklären ist leicht. Jeder sachliche Vorschlag zur Reform des Bildungswesens setzt dessen Überprüfung voraus. Diese Überprüfung muß zu dem Ergebnis kommen, daß es sich um ein außerordentlich kostspieliges und ineffizientes Modell handelt, dessen Aufrechterhaltung keineswegs im Interesse der Allgemeinheit liegt. Dessen regelmäßiges Versagen ist zurechenbar und liegt nur deshalb noch nicht ganz offen zutage, weil nach wie vor Bestände zu verbrauchen sind und Deutschland im Vergleich zur Mehrzahl der europäischen Länder und den Vereinigten Staaten von Amerika einen gewissen Vorsprung hält, der aber immer weniger mit der Güte des eigenen Bildungswesens, sondern immer mehr mit den desaströsen Zuständen bei den Nachbarn zu tun hat.
Zweihundertjährige Erfolgsgeschichte kommt an ihr Ende
Trotzdem bleibt es dabei, daß das, was verschlissen wird, kaum noch zu regenerieren ist, das Personal, das den Betrieb aufrechterhält, immer weiter ausdünnt oder aus Altersgründen nicht mehr zur Verfügung stehen wird, während die Folgen von Ideologisierung, Parteibuchwirtschaft, „Multikultischummeleien“ (Sven Frese) und Quotenregeln einerseits, Gewöhnung an den Schlendrian, Wohlstandsverwahrlosung und Laissez-faire andererseits unübersehbar werden.
Ganz gleich also, um welches Thema die aktuelle Bildungsdebatte kreist. Sie wird nicht verhindern, daß eine zweihundertjährige Erfolgsgeschichte an ihr Ende kommt: die des deutschen Bildungssystems.
JF 31/32-15