Jede Gesellschaft hat ihre Tabus. Auch die Gesellschaft, welche behauptet, für ihre Mitglieder die größtmögliche Freiheit verwirklicht zu haben. Sie hat lediglich ihre Tabus vergessen, aber sie sind dennoch vorhanden. Und im Falle der Bundesrepublik von heute wachsen und gedeihen diese Tabus außerordentlich prächtig. So prächtig, daß sie längst die Existenz der Gesellschaft bedrohen, die sie erst ermöglicht hat.
Auf diese schädlichen Tabus einer Gesellschaft hinzuweisen wäre eigentlich Sache des politischen Kabaretts. Doch es kommt schon lange nicht mehr seiner Aufgabe nach, sondern beteiligt sich mit altbackenen Sottisen am bundesrepublikanisch-staatstragenden Geschunkel. Vor dem Fundamentalismus von heute dagegen kuscht das Kabarett politisch-korrekt – wenn man nicht gerade Dieter Nuhr heißt.
Dieser hat gelegentlich ein Tabu ignoriert und die ihrem Selbstverständnis nach vollkommenste aller Gesellschaften aufs Korn genommen: den Islam und seine Gemeinschaft der Gläubigen. Zugegeben bietet das sich auch an, weil Anspruch und Wirklichkeit selten so grotesk wie hier auseinanderfallen und entsprechend mit völliger Humorlosigkeit beantwortet werden.
Unfreiwillige übertrifft freiwillige Komik
Schon im Koran wird mehrfach von den Spöttern gewarnt, die den wahren Glauben verunglimpfen. So darf sich der – bisher eher unbekannte – Islamfunktionär Erhat Toka zumindest mit seinem Glauben in Einklang wissen, wenn er nun Strafanzeige wegen Beileidung seines Glaubens gegen den „Haßprediger“ Nuhr gestellt hat. Was die Signalwirkung dieser Anzeige betrifft, war das alles allerdings vielleicht nicht so schlau.
Wenn es die freiwillige Komik in Deutschland nicht schafft, die Menschen wachzurütteln, so vermag es vielleicht die unfreiwillige Komik. In diesem Sinne muß man Toka für seine Anzeige wirklich dankbar sein. Oder, wie es Nuhr selbst formuliert: „Wenn der mich als Haßprediger bezeichnet, dann ist das vom humoristischen Standpunkt aus gesehen natürlich eine tolle Leistung.“