Lange Zeit stand die United Kingdom Independence Party (UKIP) in dem Ruf, sie könne zwar bei Europa-Wahlen punkten, habe aber so gut wie keine Chancen bei britischen Parlaments- oder Kommunalwahlen. Die Wahlsiege von Douglas Carswell in Essex und Mark Reckless in Kent haben diese These nun nachdrücklich in Frage gestellt. Einige UKIP-Mitglieder träumen bereits davon, den Triumphzug der Partei fortsetzen und bei den anstehenden Parlamentswahlen bis zu fünfzehn Sitze gewinnen und womöglich gar als Zünglein an der Waage über den Ausgang entscheiden zu können.
Dabei gilt es freilich zu bedenken, daß die beiden frischgekürten UKIP-Parlamentarier sich als konservative Abgeordnete in ihrem jeweiligen Wahlkreis einen Namen gemacht und Glaubwürdigkeit erworben hatten, bevor sie zu UKIP überliefen. Es sind Gerüchte im Umlauf, daß weitere sechs Konservative und ein Labour-Abgeordneter diesen Schritt ebenfalls erwägen – aber selbst dann wäre längst nicht garantiert, daß sie tatsächlich wiedergewählt würden. Reckless’ Sieg fiel bereits erheblich knapper aus als Carswells, und je mehr Politiker zu UKIP überlaufen, desto weniger Beachtung werden die Medien ihnen schenken. Daß Carswell und Reckless bei der Auswahl der UKIP-Kandidaten für die Nachwahlen in Clacton und Rochester den Vorzug vor altgedienten Parteimitgliedern erhielten, löste zudem an der Basis einigen Unmut aus.
Die Mandate könnte UKIP bald verlieren
Hinzu kommt, daß die Wähler sich bei Nachwahlen – die sie als Chance verstehen, die Regierung in Verlegenheit zu bringen, ohne wirtschaftspolitische Risiken einzugehen – anders verhalten als bei Parlamentswahlen. Durchaus möglich, daß Carswell und Reckless ihre Mandate im Mai schon wieder verlieren. Die britische Bevölkerung ist seit jeher daran gewöhnt, daß zwei große Parteien die Geschicke des Landes lenken, und alte Gewohnheiten lassen sich bekanntlich schwer überwinden.
UKIP hat sich zwar in letzter Zeit stark professionalisiert, weist jedoch nach wie vor strukturelle Schwachstellen auf und kann vor allem bei der Wahlkampffinanzierung nicht mit den Konservativen mithalten. Zudem gibt es parteiinterne ideologische Spannungen und eine lange Tradition häßlicher Grabenkämpfe. Der wirtschaftspolitische Sprecher Patrick O’Flynn hat sich durch seinen versuchten Kurswechsel weg von dem UKIP-Modell eines schlanken Staats mit niedrigen Steuersätzen Feinde gemacht.
UKIP wird die Erwartungen sorgfältig steuern müssen
Selbst an der Einwanderungsfrage, die sozusagen das Kerngeschäft der UKIP ausmacht, scheiden sich mittlerweile die Geister: Carswell und einige andere Parteimitglieder plädieren für einen Kurs, den die Mehrheit als viel zu liberal empfindet. Ähnlich sieht es bei umstrittenen gesellschaftspolitischen Themen wie der Homo-Ehe aus, die von der Mehrheit der UKIP-Mitglieder abgelehnt, von einigen hochrangigen Politikern (nicht zuletzt dem neuesten UKIP-Abgeordneten Mark Reckless) aber befürwortet wird.
UKIP wird die Erwartungen sorgfältig steuern müssen, um eine Enttäuschung am Wahlabend zu vermeiden. Laut den auf der Webseite electionforecast.co.uk veröffentlichten Umfragewerten scheint es derzeit am wahrscheinlichsten, daß UKIP im Osten Englands den Konservativen vier bis sechs Sitze abnehmen und landesweit einen Stimmenanteil von ca. 11 Prozent erreichen wird. Freilich sind vier bis sechs Sitze ein durchaus respektables Ergebnis für eine Partei, die so lange am Rande des politischen Geschehens vor sich hin dümpelte.