Herr Gräber, ist der Atomausstieg Deutschlands Folge einer Verschwörung?
Daniel Gräber: Das Wort würde ich nicht wählen, weil es so etwas Geheimnistuerisches hat.
Aber genau so wirkt es in Ihrem neuen Buch „Akte Atomausstieg. Das Ende der Kernkraft und das Scheitern der Energiewende“.
Gräber: Mit Verschwörung verbinde ich, daß ein Geheimbund einen Plan ausheckt. Und eben so war es nicht, vielmehr war der Atomausstieg ein lang verfolgtes, viel debattiertes politisches Ziel, das in Wahlen zur Abstimmung stand. Daß dabei mit zum Teil unlauteren Methoden vorgegangen wurde, wie ich im Buch beschreibe, ist eine andere Frage.
Sie nennen den schließlich am 15. April 2023 vollzogenen Atomausstieg im Buch doch selbst eine „Täuschung“, „Farce“ und ein „Schmierentheater“.
Gräber: Ja, weil natürlich auch Dinge im verborgenen gelaufen sind. Schwerpunkt des Buchs sind die Ereignisse im Energiekrisenjahr 2022, als mit Putins Einmarsch in die Ukraine das russische Gas wegfiel und klar wurde, den Atomausstieg weiter durchzuziehen wäre sehr dumm – wobei er davor schon eine dumme Idee war, aber nun erst recht.
Ehrlich gesagt, glaubte ich damals, angesichts der Krise würde der Ausstieg verschoben werden, weil selbst die Grünen ein Einsehen haben. Und falls die nicht, dann weil Scholz durchgreifen würde. Und falls er nicht, dann weil die EU oder Frankreich oder irgendwer Deutschland zur Vernunft bringen würde. Aber Irrtum. Stattdessen wurden Scheinargumente präsentiert – etwa die AKW am Netz zu lassen wäre gar nicht möglich oder bringe schlicht nichts – und wenn eines widerlegt war, saugte man sich das nächste aus den Fingern.
Ich dachte damals: Das kann doch nicht wahr sein! Was ist da eigentlich los? Irgendwer muß doch endlich mal die Fakten auf den Tisch legen!
Gräber: „So gesehen kann man den Begriff ‘Verschwörung’ vielleicht verwenden“
Sie verklagten das Bundeswirtschaftsministerium auf Akteneinsicht und bekamen schließlich recht: 2024 veröffentlichten Sie dann im „Cicero“ die Enthüllungsgeschichte „Habecks Geheimakten. Wie die Grünen beim Atomausstieg getäuscht haben“, jetzt Kern Ihres Buches.
Gräber: Ja, denn mich ärgerte enorm, daß der Minister und seine Partei nicht offen sagten: Wir wurden für den Ausstieg aus der Atomkraft gewählt, die wir auch weiter als eine furchtbare Technologie einschätzen, weshalb wir trotz Energiekrise an unserem großen ideologischen Ziel festhalten. Dann hätte man eine offene Debatte darüber führen können.
Stattdessen aber taten Habeck und die Grünen so, als seien sie in der Frage rein pragmatisch und versuchten, mit zwar rational klingenden, in Wahrheit aber zusammenphantasierten Quatschargumenten die Bürger zu täuschen. Was etwa darin gipfelte, daß Habeck im Fernsehen versprach, die Frage der Abschaltung der letzten drei KKW unvoreingenommen zu prüfen.
Tatsächlich jedoch, wie unsere Enthüllungen ans Licht brachten, entsprach das Ergebnis dieser „Prüfung“ nicht nur nicht den Fakten, sondern war von grünen Spitzenbeamten in seinem Ministerium vorgegeben worden.
Erfüllt diese Manipulation der Resultate, Verdrehung der Fakten ins Gegenteil und schließlich ihre großangelegte Verbreitung zur Täuschung der Öffentlichkeit – im Buch sprechen Sie selbst von einer „Desinformationskampagne“ –, nicht alle Kriterien einer Verschwörung?
Gräber: So gesehen kann man den Begriff vielleicht schon verwenden, denn ja, diese jüngste Episode des Atomausstiegs war in der konkreten Situation tatsächlich das Ergebnis einer Verschwörung einiger grüner Parteisoldaten in staatlichen Schlüsselfunktionen. Und da wird es dann auch gefährlich, weil das in der Tat eine Art „Deep State“, also „Tiefer Staat“, der Grünen ist.
Im Buch nennen Sie diesen den „Energiewendestaat“, in Analogie zum „Atomstaat“, von dem die Grünen früher gerne anklagend sprachen.
Gräber: Richtig, denn ich beschreibe, wie heute dank der Grünen die Anti-Atom-Lobby und die Erneuerbare-Energien-Industrie ebenso mit Staat und Politik verfilzt sind, wie früher die Atomindustrie dank Union, FDP und SPD – als letztere noch pro Atomkraft war. Und wie dieser Energiewendestaat in seiner ideologischen Überzeugung, die Atomkraft sei des Teufels und müsse um jeden Preis beendet werden, seinem Ziel alles unterordnet – die Fakten, die Wahrheit, ja sogar die Sicherheit und den Wohlstand des Landes.
Und dies obwohl das Wohl des Landes ja das Ziel ist, dem Regierung, Ministerien und Spitzenbeamte zu dienen haben – wofür sie ja übrigens üppig bezahlt werden, denn als Kanzler, Minister und Staatssekretär verdient man gutes Geld. Daß sie alle eine politische Linie haben, ist natürlich logisch und auch legitim, hebt aber nicht auf, daß sie von Verfassungs wegen zuerst dem Wohle des deutschen Volkes verpflichtet sind. Daher erwarte ich als Bürger und auch als kritischer Journalist, daß sie dem in einer Krise wie 2022 ihr Parteibuch und ihre politischen Interessen unterordnen.

Sie schreiben, Habeck habe im Grunde verstanden, daß die Weiterverfolgung des Atomausstiegs spätestens in dieser Lage ein Fehler war, habe aber nicht gewagt, nach dieser Einsicht zu handeln.
Gräber: Ja, weshalb Habeck, wie man leider sagen muß, eben auch kein großer Politiker ist, sondern ein großer Geschichtenerzähler – anders als etwa Joschka Fischer, der sich 1999 wegen des Jugoslawien-Kriegs mit seiner Partei anlegte und ihr den Pazifismus austrieb. Der übrigens ebenso eine Quatschidee war wie die Anti-Atom-Ideologie.
Das aber hat sich Habeck einfach nicht getraut – gut, aber dann hätte er ja zurücktreten können. Doch stattdessen machte er die Verschwörung – um den Begriff zu wählen – in seinem Beamtenapparat mit. „Machte mit“, weil man einräumen muß, daß er sie nicht angeführt hat.
Das hat vielmehr sein damaliger Staatssekretär Patrick Graichen. Der später von Habeck rausgeschmissen wurde – offiziell wegen der Trauzeugenaffäre 2023, doch vermute ich, daß auch diese Sache dabei eine Rolle spielte, da Graichen in der Angelegenheit schon auch sein eigenes Spiel trieb.
Das heißt? Was wußte Robert Habeck denn nun?
Gräber: Tja, das ist nach wie vor eine offene Frage, da Graichen ihm nicht alle Dokumente vorlegte. Zu Habecks Verteidigung sei also gesagt, daß er folglich teilweise auch falsch informiert war.
Was, wären damals alle Fakten und internen Experteneinschätzungen öffentlich gemacht worden?
Gräber: Dann hätte die öffentliche Debatte mit ziemlicher Sicherheit dazu geführt, daß man den verhängnisvollen Pfad des Atomausstiegs verlassen hätte, weil, wie ich glaube, der Widerstand zu groß geworden wäre.
„Im Grunde müßte man da wie in Argentinien mit der Kettensäge ran“
Sie sprechen von „einer Art Tiefen Staat der Grünen“, können Sie diesen näher beschreiben?
Gräber: Er ist fast schon aristokratisch organisiert, fast im Sinne einer Erbmonarchie oder Erbfolge, die auf die Schlüsselfigur Jürgen Trittin zurückgeht, den Vater des Atomausstiegs. Als Landes-, später Bundesumweltminister nutzte er seine Position als oberster Atomaufseher, um den Kernkraftwerksbetreibern das Leben so schwer und so teuer wie möglich zu machen. Nur ist die Atomkraft so wirtschaftlich, daß sie sich trotzdem weiter lohnte, und so gaben sie diese nicht auf, bis man sie schließlich verbot, als man die Macht dazu hatte. Das war sozusagen Trittins Lebenswerk.
Als dann 2022 die Energiekrise kam, wagte Habeck nicht, sich mit Trittin anzulegen, da der, obwohl im Ruhestand, weiterhin sehr mächtig in der Partei ist, deren linken Flügel er als Strippenzieher beeinflußt. Jedenfalls hat das System, das Trittin installierte, jene Leute hervorgebracht, die 2022 dafür sorgten, daß wider die Vernunft am Atomausstieg festgehalten wurde, etwa Patrick Graichen oder Rainer Baake, die zusammen 2012 die „Agora Energiewende“ gründeten, die sich Denkfabrik nennt und eine gut finanzierte und gut vernetzte Lobby-Organisation ist, die knallhart die Interessen der Erneuerbare-Energien-Industrie vertritt. Dank der Grünen wurden diese zwei Lobbyisten Staatssekretäre, zuständig für die Energiewende. Erst Baake, schon unter Jürgen Trittin und später erneut unter Sigmar Gabriel, dann Graichen unter Habeck – das war die Erbfolge.
Daneben besetzten weitere Agora-Leute Schlüsselpositionen. Die Agora fungierte als eine Art Wartestellung, bis zu dem Tag, an dem man wieder die Regierung übernahm, dann wechselten ihre Funktionäre in die Ministerien, zusammen mit ihren Plänen, die sie sich für diesen Tag gemacht hatten. Man stelle sich einmal vor, es ginge um Vertreter der Rüstungsindustrie, die so mit Hilfe der CDU/CSU zwischen Verteidigungsministerium und Lobbyverband hin und her wechselten – was das für einen Aufschrei gäbe!
In Ihrem Buch vergleichen Sie Rüstungs- und Erneuerbare-Energien-Industrie und plädieren dafür, beide gleich kritisch zu betrachten.
Gräber: Ja, weil beide fast völlig von der Politik abhängen, ohne die es für sie kaum einen Markt gibt: Die Rüstungsindustrie, weil ihr Kunde der Staat ist, die Erneuerbare-Energien-Industrie, weil ihre Produkte ohne staatliche Verbote und Subventionen nicht konkurrenzfähig sind. Während aber der Spiegel, „Panorama“ etc., also die investigativen Medien, bei der Verflechtung von Politik und Waffenindustrie genau hinschauen, findet sich das bei der Verflechtung mit der Erneuerbare-Energien-Industrie noch viel zu wenig, ja bis vor kurzem quasi überhaupt nicht. Dabei ist da etwas herangewachsen, was uns noch ziemlich beschäftigen wird.
„Diese Netzwerke sind weiter aktiv und beherrschen die Energie-Politik“
Inzwischen haben wir aber doch eine neue Bundesregierung, ohne die Grünen. Ist der grüne Tiefe Staat also nicht Geschichte?
Gräber: Da bin ich skeptisch, denn diese Netzwerke sind weiter aktiv, und die CDU hat dem noch viel zu wenig entgegenzusetzen. Natürlich, ob und was diese Strukturen durchsetzen können, ist offen. Aber es gibt letztlich keine staatstragende politische Partei, die entschieden sagt: Wir räumen mal mit diesem Energiewendestaat auf! Auch Kanzler Merz traut sich das nicht wirklich, ja, die CDU hält prinzipiell sogar an der Energiewende fest.
Auch wenn die neue Wirtschaftsministerin Katherina Reiche durchaus ein paar richtige Signale sendet und richtigerweise auch die Spitzen des Hauses ausgetauscht hat. Aber ich vermute, daß sich diese Netzwerke dort so sehr festgesetzt haben und die Energiepolitik weiter so sehr beherrschen, daß wir sie längst noch nicht los sind. Im Grunde müßte da eigentlich jemand, wie in Argentinien, mit der „Kettensäge“ ran.
Wir haben also eine Lobby, die aufgrund des Wegsehens der Medien und einer zahmen Union die Politik manipulieren kann – die wiederum unter diesem Einfluß die Öffentlichkeit täuscht und belügt, um auf Kosten des Wohles des Landes die ideologischen Ziele und finanziellen Interessen dieser Lobby durchzusetzen. Wo endet das?
Gräber: Ich bin kein Ökonom, Physiker oder Ingenieur, aber wenn ich mit solchen spreche, die nicht aus dem System des Energiewendestaates kommen – also nicht davon leben, Studien zu produzieren, die erklären, daß das alles möglich ist, sondern die etwas kritischer sind –, legen diese dar, wie hochriskant das alles ist und wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß die Energiewende nicht funktioniert. Daß diese Wahrscheinlichkeit zumindest wesentlich größer ist als die Wahrscheinlichkeit, daß sie funktionieren wird.
Denn wir untergraben mit ihr unsere Versorgungssicherheit und die Bezahlbarkeit von Energie und erreichen dafür noch nicht einmal die Umwelt- und Klimaziele, um die es bei der ganzen Sache geht. Ein wesentliches Argument für die Energiewende ist ja, der Welt als erfolgreiches Beispiel zu dienen – doch tatsächlich sind wir ein abschreckendes Beispiel.
„Wir müssen alles tun, die Gefahr der Öffentlichkeit klarzumachen“
Sie schreiben gar, würde die Welt uns folgen, käme die Energiewende völlig zum Erliegen.
Gräber: Ja, denn wir brauchen aufgrund unserer Versorgungsunsicherheit ausländischen Atomstrom. Würde die Welt uns wie geplant folgen, stünde der nicht zur Verfügung und die Energiewende wäre längst zusammengebrochen. Daß ein Vorhaben, das darauf zielt, daß andere ihm folgen, nur „funktioniert“, weil sie es nicht tun und in dem Moment kollabiert, in dem sie es tun, zeigt, was für völliger Irrsinn das Ganze ist.
Leider aber glaube ich inzwischen, daß wir aus dieser verfahrenen Logik nur herauskommen, wenn es ein deutliches Eingeständnis des Scheiterns gibt. Das aber ist seitens der etablierten Politik nicht abzusehen. Vermutlich braucht es dafür einen äußeren Anlaß, zum Beispiel, daß es mit der Wirtschaft noch deutlicher bergab geht oder daß es zu einem großflächigen Stromausfall mit fatalen Konsequenzen kommt.
Sie sagen, erschreckend sei, daß den Verantwortlichen selbst womöglich nicht klar ist, wie gefährlich solch ein äußerer Anlaß ist.
Gräber: Ja, etwa äußerte ein Staatssekretär des Umweltministeriums im Untersuchungsausschuß, daß man 2022 die Entscheidung für den Streckbetrieb der verbliebenen drei AKW um sechs Monate schließlich doch getroffen habe, auch weil man zuvor die Fernsehserie „Blackout“ gesehen habe, die zeigt, wie in Europa großflächig der Strom ausfällt. Woraufhin klargeworden wäre: O Gott, o Gott, was für eine Gefahr! Das ist natürlich zu begrüßen, doch fand ich es absolut ernüchternd, daß es einen Fernsehfilm brauchte, damit die Entscheider eines Ministeriums verstehen, welche Bedeutung die Entscheidungen haben, die sie treffen.
Und wenn wir nicht warten wollen, bis ein katastrophales Ereignis eintritt?
Gräber: Dann bleibt uns nur, immer wieder aufzuzeigen, daß die offenen Fragen der Energiewende bis heute ungelöst und wahrscheinlich auch nicht zu lösen sind und wir so hoffentlich irgendwie die öffentliche Diskussion in Gang bekommen. Mein Buch ist genau dafür ein Anfang, doch werden wir über diesen nicht hinauskommen, solange sich nur ein Nischenpublikum für die Gefahren interessiert. Deshalb müssen wir alle alles tun, das Thema in die Öffentlichkeit zu tragen!
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Daniel Gräber. Der preisgekrönte Investigativjournalist, geboren 1980 bei Karlsruhe, verdiente sich seine Sporen bei der Frankfurter Neuen Presse und den Badischen Neuesten Nachrichten, bevor er 2021 als Ressortleiter zum Cicero ging. Nun ist sein erstes Buch erschienen: „Akte Atomausstieg. Das Ende der Kernkraft und das Scheitern der Energiewende“