Herr Heinrich, kommt nun die schon einmal 2022 versprochene militärische „Zeitenwende“ tatsächlich?
Torsten Heinrich: Ich bin skeptisch: Alle Parteien versuchen nun, eigene Ziele durchzusetzen, um ihre Wähler glücklich zu machen – das wird das Ganze ein Stück weit schwächen.
Warum?
Heinrich: Weil nicht beliebig viel Geld und Potential vorhanden ist, und wenn jeder ein Stück von Kuchen haben will, bleibt am Ende immer weniger für die Bundeswehr übrig.
Was wäre nötig, damit diesmal die Zeitenwende gelingt?
Heinrich: Vor allem Reformen innerhalb der Truppe! Denn die hat zwar ein vergleichbares Budget wie die Armeen Frankreichs oder Japans, doch vergleicht man ihre Kampfkraft, fragt man sich, wo das Geld für die Bundeswehr eigentlich bleibt.
Heinrich: „Die Antworten liegt in den Untiefen der Bürokratie verborgen“
Und, wo bleibt es?
Heinrich: Zum Beispiel fließt über eine Milliarde jährlich in die Renten ehemaliger NVA-Soldaten. Nun gut. Aber warum kostet zum Beispiel ein Gehörschutz, für den Sie privat 1.000 Euro zahlen, die Bundeswehr 10.000 Euro? Es reicht also nicht, daß die Politik massiv den Geldhahn aufdreht, sondern die Ineffizienz muß beendet werden.
Womit wir beim berüchtigten Beschaffungswesen der Bundeswehr wären: Warum ist dieses nicht in der Lage, das siebtgrößte Militärbudget der Welt in eine angemessen ausgerüstete Armee zu verwandeln?
Heinrich: Die Antwort liegt irgendwo in den Untiefen der Bürokratie des Beschaffungsamtes verborgen. Denn der Annahme, die Ursache sei, daß es für die Bundeswehr immer die „Goldrandlösung“ sein müsse, was alles so teuer und langwierig mache, widerspricht der Umstand, daß die Japaner quasi die Könige der Goldrandlösung sind, ihre Armee aber trotzdem nicht diese Probleme hat.
„Deutsche müßten für Franzosen und Briten in Übersee kämpfen“
Auch wenn Geld alleine also das Problem nicht löst, sind die im neuen „Sondervermögen“ nun für Rüstung veranschlagten 400 Milliarden Euro genug?
Heinrich: Im Sondierungspapier, das derzeit herumgeht, findet sich keine nominelle Obergrenze, sondern ab einem Prozent soll Schuldenfinanzierung möglich sein. Was bedeutet, daß je nach Bedarf Schulden gemacht werden können, also jetzt 400 Milliarden und theoretisch nächstes Jahr wieder.
Welcher Betrag wäre aus Ihrer Sicht denn nötig?
Heinrich: Die jetzigen 400 Milliarden Euro könnten reichen – oder auch nicht. Das hängt einfach von zu vielen Faktoren ab: Zum Beispiel wie stark rüsten die Russen künftig auf? Oder was leisten unsere Verbündeten? Investieren sie wenig, müssen wir mehr schultern! Ein weiterer Faktor ist: Was müssen wir bei einem Rückzug der USA in den Aufbau von sogenannten „Strategic Enablern“ stecken.
Würde Deutschland sein moralisches Veto aufgeben?
Also strategische Fähigkeiten, die bisher die Amerikaner bereitstellen.
Heinrich: Ja, müssen wir zum Beispiel künftig eine europäische strategische Lufttransportflotte schaffen oder eine Flotte strategischer Aufklärungsflugzeuge anschaffen oder gar ein eigenes Spionagesatellitennetzwerk aufbauen? Dann hätten wir es mit ganz anderen Preisdimensionen zu tun, als wenn wir etwa nur unsere Panzerwaffe aufrüsten.
Organisiert ist die Nato um die USA herum, die den Ton angeben. Würde ein europäisches Verteidigungsbündnis mit drei (oder sechs, falls man Italien, Polen und Spanien hinzuzählt) etwa gleich großen Zentralmächten denn ebenso funktionieren oder gäbe es in Ermangelung eines Anführers ständig Uneinigkeit?
Heinrich: Diese Sorge ist nicht völlig unberechtigt und ist mein Argument gegen eine europäische Armee – über die ja nun auch wieder geredet wird. Denn tatsächlich sind die Interessen der europäischen Nationen sehr unterschiedlich. Denken Sie etwa daran, daß Italien, Polen und Spanien 2003 mit in den Irak zogen, Deutschland und Frankreich aber nicht. Oder wie viele Überseegebiete Großbritannien hat, die es, wie 1982 die Falklands, auch verteidigt.
Oder wie militärisch engagiert Frankreich in Afrika ist, das seit 1945 dort im Schnitt eine Intervention pro Jahr durchführt! Im Fall einer Euro-Armee müßten also Briten und Franzosen darauf verzichten oder aber Deutsche und andere Europäer bereit sein, auch in Übersee zu kämpfen – schwer vorstellbar. Denkbar wäre dagegen, daß die Europäer gemeinsam Waffensysteme anschaffen, die für einzelne zu teuer sind und die bei Bedarf einem europäischen Land überlassen werden, das sie in Übersee einsetzen möchte. Wobei es natürlich für Ersatz zu sorgen hätte, sollte die Waffe, etwa ein teures Aufklärungsflugzeug, in einem solchen Einsatz verlorengehen.
Das würde aber voraussetzen, daß Deutschland sein moralisches Veto aufgibt, wonach deutsche Waffen nicht einfach in Spannungsgebiete geschickt werden dürfen.
Heinrich: Dieser Luxus wird sowieso nicht zu halten sein. Denn Waffensysteme sind heute so teuer, daß sie oft gemeinsam entwickelt werden, wie etwa das deutsch-französische „Main Ground Combat System“, das ab etwa 2040 den französischen Kampfpanzer Leclerc und sein deutsches Pendant, den Leopard 2, ablösen soll. Und da heute nicht mehr wie im Kalten Krieg Stückzahlen von 5.000 bis 7.000 beschafft werden, sondern nur einige hundert Exemplare, ist ihr Stückpreis enorm hoch – und läßt sich nur senken, wenn man das Waffensystem auch an Dritte verkauft.
Sonst muß man dem Steuerzahler erklären, warum man in Zeiten knapper Kassen astronomische Summen für einige wenige Waffen ausgibt, nur um sich besser zu fühlen. Denn einen praktischen Effekt hat das nicht. Etwa wollte Saudi-Arabien Leopard 2 kaufen, was Berlin stoppte, wegen des saudischen Kriegs im Jemen. Aber haben die Saudis deshalb nun keine Kampfpanzer? Nee, natürlich haben sie welche, nämlich den M1 „Abrams“ der Amerikaner, die statt uns das Geschäft machten.
Zu den strategischen Fähigkeiten, die die USA bieten, gehört vor allem ihr Kernwaffenarsenal. Braucht Deutschland also jetzt eigene Atombomben?
Heinrich: Wenn wir uns auf den Atomschirm anderer verlassen, müssen drei Bedingungen erfüllt sein: Erstens müssen wir das Vertrauen haben, daß uns, wenn sich die USA zurückziehen zum Beispiel, die Franzosen mit ihrer Force de Frappe beschützen. Zweitens müssen die Franzosen entschlossen sein, das auch zu tun. Und drittens müssen die Russen von der Entschlossenheit der Franzosen überzeugt sein. Wenn nur eines dieser drei Kriterien nicht erfüllt ist, braucht man eigene Atomwaffen.
„Ich war ein Gegner deutscher Atomwaffen – bisher“
Wären Franzosen oder Briten bereit, uns atomar zu schützen?
Heinrich: Tja, würde Frankreich atomar antworten, wenn etwa Rostock dem Atomangriff einer feindlichen Macht zum Opfer fiele – und damit Atomschläge gegen französische Städte riskieren?
Also brauchen wir eigene Atombomben?
Heinrich: Das Problem ist, Kernwaffen sind extrem teuer: Erstens muß man eine Industrie aufbauen, die sie herstellt. Zweitens braucht man Hunderte von ihnen, um sicherzustellen, daß der Gegner nicht auf die Idee kommt, er könne bei einer kleinen Anzahl mit einem Erstschlag alle ausschalten. Drittens braucht man Trägersysteme, Flugzeuge oder Raketen, die die Bomben zum Feind bringen. Und viertens braucht man eine Zweitschlagskapazität, also ein Waffensystem, das den Angreifer auch dann noch atomar vernichten kann, wenn er Deutschland per Erstschlag vernichtet hat. Denn nur das garantiert, daß er diesen gar nicht erst wagt.
Etwa eine Flotte von mit Atomraketen bestückten U-Booten, die selbst atomar getrieben sind, damit sie quasi unbegrenzt unter Wasser operieren können. Das alles macht Atomwaffen sehr teuer. Die zudem keine der teuren konventionellen Waffen ersetzen, die man dennoch braucht, um nicht gezwungen zu sein, bei jedem Angriff gleich mit einem Atomschlag reagieren zu müssen. Aus diesem Grund war ich bislang ein Gegner deutscher Atomwaffen, da der US-Atomschirm schlicht billiger war. Doch nun bestehen Zweifel, ob er noch zur Verfügung steht.
„So treibt man die Nato Stück um Stück auseinander“
Das führt zu der Frage, ob die Abkehr der USA von Europa tatsächlich stattgefunden hat: Gibt der Trump-Selenskyj-Eklat das wirklich her oder behaupten Politik und Medien das nur?
Heinrich: Trump hat klar gesagt, daß Staaten, die ihren Zwei-Prozent-Nato-Beitrag nicht voll erfüllen, nicht mehr beschützt werden.
Fragt sich, ob es wirklich die USA sind, die damit die Solidarität aufkündigen, oder nicht vielleicht jene, die ihren vollen Beitrag schuldig bleiben?
Heinrich: Sogar Polen, das nicht nur mehr als zwei Prozent bezahlt, sondern prozentual sogar mehr als die USA, denkt nun über eigene Atomwaffen nach – das ist schon bezeichnend! Aber kommen wir zurück zu dem Element, auf dem die Abschreckung und damit die Nato basiert: Vertrauen! Vertrauen in die Entschlossenheit der USA, an der Seite ihrer Verbündeten zu stehen. Eben das aber hat Trump durch sein Verhalten erschüttert. Und sobald es erschüttert ist, ist die Nato gefährdet!
Denn das ist quasi eine Einladung, ihren Zusammenhalt zu testen. Nicht durch einen europaweiten Großangriff, sondern per Provokation an der Peripherie: Sind die Europäer wirklich bereit, wegen eines Angriffs etwa auf Turku in Finnland einen Krieg zu riskieren? So treibt man eine Nato, die sich nicht mehr einig ist, Stück um Stück auseinander.
Zum einen könnten die Europäer ja einfach ihre Beiträge leisten, dann wäre die US-Garantie wieder in Kraft. Zum anderen war der Eklat im Weißen Haus eine Absage an Selenskyj, nicht aber an die Nato.
Heinrich: Aber Trump hat nicht, wie es vielleicht zu erwarten gewesen wäre, gesagt: „Der Ukrainekrieg ist mir zu teuer, ich ziehe mich finanziell zurück, liebe Europäer, das ist euer Kontinent!“ Das wäre zwar bitter, aber nachvollziehbar und hätte daher kein Vertrauen zerstört. Er aber hat die Weitergabe kriegswichtiger Informationen an die Ukraine gestoppt und den ordnungsgemäßen Einsatz aktiver Systeme verhindert. Was zu höheren zivilen und militärischen Verlusten führen muß, weil Zeit zur Reaktion fehlt. Das ist nicht mehr weit davon entfernt, die Seiten gewechselt zu haben!
„Trump ist sich nicht im klaren, welche Folgen das langfristig hat“
Die USA haben sich gegenüber Dritten schon immer auch amoralisch, ja verbrecherisch verhalten. Das hat aber nie das Vertrauen in der Nato gestört. Zudem: Hätte Trump sich vielleicht nicht so verhalten, wenn Selenskyj sich anders benommen hätte?
Heinrich: Möglich, denn in der Diplomatie vermeidet man alles, was als respektlos empfunden werden kann. Diesbezüglich haben Selenskyjs Berater versagt und ihn nicht gewarnt, daß er nicht bei einem Freund zu Besuch ist, sondern am Königshof eines Imperialisten des 19. Jahrhunderts.
Pardon, aber die USA sind, wie alle Großmächte, nach wie vor Imperialisten. Vielleicht nicht gegenüber uns Europäern, aber fragen Sie mal die Iraker, Vietnamesen, Chilenen oder die ohne Prozeß nach Guantanamo oder in „Black Site“-Geheimgefängnisse Verschleppten etc.
Heinrich: Stimmt, und doch hat man zumindest den Schein gewahrt: Selbst der Staatschef von Tuvalu wurde in Washington mit allen Ehren empfangen, obwohl sein Pazifikatoll weniger Einwohner als ein Stadviertel der US-Hauptstadt hat. Und im Zweifel wurde ein mißliebiges Staatsoberhaupt nicht eingeladen – niemals aber öffentlich vorgeführt, wie nun Selenskyj. Das ist ein unerhörter Vorgang im Stile imperialer Machtpolitik des 19. Jahrhunderts. Zu welchem aber, das streite ich gar nicht ab, Selenskyj unklugerweise selbst die Vorlage geliefert hat – ähnlich einem Azubi, der meint, vor der Belegschaft den Chef belehren zu müssen.
Allerdings basiert das US-Imperium darauf, seine Satrapen lieber freundlich zu integrieren, als zu malträtieren. Was, wie schon Römer oder Briten wußten, der beste Weg zu stabiler Macht ist. Warum also stößt Trump alle vor den Kopf – Europäer, Kanadier, Grönländer? Letztlich unterminiert er damit doch die Geschäftsgrundlage US-amerikanischer Vormacht.
Heinrich: Fast könnte ich zum Verschwörungstheoretiker werden, denn der gerade in den Medien diskutierte Verdacht, Trump könnte ursprünglich ein KGB-Agent mit dem Decknamen „Krasnow“ gewesen sein, paßt als Erklärung perfekt. Doch mache ich mir diese nicht zu eigen, weil ich die Argumente dafür bisher nicht im geringsten prüfen konnte – und gerade eine so schwere Anschuldigung erfordert penible Quellenkritik, bevor man sie auch nur im Ansatz übernimmt. Wahrscheinlicher ist, daß wir es vielleicht einfach mit einem Immobilienhai zu tun haben, der sein Wirtschaftsimperium mit Druck, Drohungen und nahezu illegalen Methoden aufgebaut hat.
Wie kommen Sie darauf?
Heinrich: In der Hoffnung, Trump besser zu verstehen, habe ich eben sein Buch „The Art of Deal“ von 1987 gelesen. Zwar hat es ein Ghostwriter verfaßt, aber in Zusammenarbeit mit Trump. Darin wird deutlich, daß er zum Beispiel die Aussetzung von Steuern in erheblichem Umfang gefordert hat, um für ihn profitable Projekte umzusetzen, oder zum gleichen Zweck Enteignungen durchsetzte.
Also immer wieder Maßnahmen genutzt hat, die eigentlich einem gemeinnützigen Zweck dienen sollen und die für jemanden, der wie er nur ein Eigeninteresse verfolgt, eigentlich nicht bewilligt worden wären. Die er aber dennoch durchsetzen konnte, weil er so viel Einfluß hatte, daß er die politischen Entscheidungsträger der Stadt New York manipulieren konnte. Und dieses Erfolgsrezept der Rücksichtslosigkeit überträgt Trump nun offenbar auf die Politik, ohne sich im klaren darüber zu sein, welche Folgen das langfristig für die USA haben kann.

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