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Wolfgang Venohr: „Dann kämpft man eben bis zur letzten Patrone“

Wolfgang Venohr: „Dann kämpft man eben bis zur letzten Patrone“

Wolfgang Venohr: „Dann kämpft man eben bis zur letzten Patrone“

Wolfgang Venohr und seine neu aufgelegten Jugenderinnerungen
Wolfgang Venohr und seine neu aufgelegten Jugenderinnerungen
Wolfgang Venohr (1925-2005) und seine neu aufgelegten Jugenderinnerungen Foto: Jf-Montage
Wolfgang Venohr
 

„Dann kämpft man eben bis zur letzten Patrone“

Vor rund zwanzig Jahren sprach der große deutsche Publizist Wolfgang Venohr erstmals mit der JUNGEN FREIHEIT über seine Kriegserlebnisse. Die JF hat sein Buch, in dem er seine Erinnerungen festgehalten hat, nun neu aufgelegt und stellt das Interview bereit, das sie 2002 mit dem Germanisten und Historiker führte.
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Wie erlebt ein blutjunger Soldat der Waffen-SS den Feldzug in Rußland und als Frontsoldat die Erhebung des 20. Juli 1944? Der bekannte Publizist Wolfgang Venohr (1925–2005) schildert in seinen jetzt bei der JF Edition neu aufgelegten Lebenserinnerungen genau das: Die Perspektive des Landsers, der das Attentat auf Hitler zunächst als Verrat erlebte und sich später nach dem totalen Zusammenbruch mühsam der Perspektive des Widerstandes annäherte.

Wolfgang Venohr produzierte als Chefredakteur von „Stern TV“ zahlreicher Fernsehdokumentationen („Dokumente deutschen Daseins“, „Außergewöhnliche Außenseiter“) und schrieb wegweisende Bücher („Stauffenberg. Symbol des Widerstands“, „Patrioten gegen Hitler. Der Weg zum 20. Juli 1944“), in denen er Stauffenberg und seinem Widerstandskreis ein Denkmal setzte. Wir dokumentieren nachfolgend ein ausführliches Interview, das wir mit Wolfgang Venohr zur Erstauflage seiner Lebenserinnerungen im Mai 2002 führten.

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Herr Dr. Venohr, Sie haben länger gezögert, Ihre Kriegserlebnisse zu veröffentlichen, die jetzt in der EDITION JF unter dem Titel „Die Abwehrschlacht“ erschienen sind?

Venohr: Ja, das ist richtig. Geschrieben habe ich das Wesentliche schon früh, nämlich in der Zeit vom 15. Mai bis 15. Juli 1945. Zu der Zeit lag ich im Lazarett Ladelund bei Leck an der deutsch-dänischen Grenze. Dort habe ich ein Kriegskalendarium niedergeschrieben, das ich später nur noch ein bißchen verfeinern und mit dem Tagebuch meines Freundes Werner Pickhardt vergleichen mußte.

Sie hatten jedoch nicht vor, diesen Bericht als Buch zu publizieren?

Venohr: Nein, ich wollte diese Erinnerung nicht veröffentlichen. Diese persönlichen Aufzeichnungen waren nur für meine Familie und meinen engsten Freundeskreis bestimmt. Für sie habe ich drei Dutzend Notexemplare herstellen lassen. Ich habe aber die Idee, diese Kriegserlebnisse in die breite Öffentlichkeit zu bringen, bis zuletzt strikt abgelehnt.

Warum haben Sie Ihre Meinung dann geändert?

Venohr: Die Wende war die unsägliche Anti-Wehrmachtsausstellung des Herrn Reemtsma. Als ich da erleben mußte, wie die ganze Wehrmacht und damit auch meine gefallenen Kameraden als ein Haufen von Verbrechern dargestellt wurden, da war ich mir klar darüber: Ich muß meine Erinnerungen in die Öffentlichkeit bringen, die ja beweisen und dokumentieren, wie diese jungen Leute, die damals 17 bis 20 Jahre alt waren, sich immer wieder dem Feind entgegengeworfen haben und dabei alles andere waren, nur keine Verbrecher.

„Ich denke, daß die junge Generation das nicht mehr verstehen kann“

Wie erklären Sie denn einem heute 17jährigen, weshalb Sie sich 1942 freiwillig als 17jähriger ausgerechnet zur Waffen-SS, zur „Leibstandarte Adolf Hitler“ meldeten?

Venohr: Das ist fast unmöglich. Das versuche ich gerade bei einem meiner beiden Enkel. Der ist 20 Jahre alt und dient als Soldat. Er fragt mich ständig neugierig aus, aber ich glaube, verstehen tut er überhaupt nichts. Ich denke, daß die ganze junge Generation das nicht mehr verstehen kann. Es sei denn, man schnappt sich denjenigen am Kragen und setzt ihn vor das Fernsehgerät und führt ihm den Film „Leibstandarte Adolf Hitler im Einsatz“ vor, der mich damals als Schüler so beeindruckt hat.

Dieser Kinofilm hat Sie so begeistert, daß Sie sich bei dieser Einheit meldeten?

Venohr: Ja. Eigentlich wollte ich zum „Regiment Großdeutschland“ gehen, das war mein Wunsch, das war mein Ziel. Doch dann sah ich im Januar 1942 im Kino diesen Film. Es war ein Dokumentarfilm von 30 Minuten. Er hat mich veranlaßt, mich zum Regiment Leibstandarte anstatt zum Regiment Großdeutschland zu melden.

Haben Sie Ihren Einsatz bei der Waffen-SS nach dem Krieg unter den Teppich gekehrt?

Venohr: Wer mich nach meiner militärischen Vergangenheit fragte, ob das der Fernsehjournalist Werner Höfer war oder die Verantwortlichen bei der ARD oder beim ZDF, denen ich meine Produktionen als Chefredakteur von „Stern-TV“ lieferte, der hat das erfahren. Ich war ansonsten der Meinung, daß das eigentlich sehr private, sehr persönliche und subjektive Erinnerungen sind, die nicht in die Öffentlichkeit müssen.

Spielte die NS-Ideologie eine Rolle bei Ihrer Entscheidung, in der Waffen-SS zu dienen? Oder was zog Sie so an, sich gerade dort zu melden?

Venohr: Es ging kaum einer von diesen 17-,18-,19jährigen aus Gründen des Nationalsozialismus zur Waffen-SS. Man sah 1942 als Schüler überhaupt keinen Unterschied, denn schließlich hielten wir alle damals die ganze Wehrmacht für nationalsozialistisch. Daran gab es doch gar keinen Zweifel, daß alle Soldaten treu und loyal zu ihrem Führer und Obersten Befehlshaber standen. Man hätte sich auch in der Klasse oder in der Hitlerjugend lächerlich gemacht, wenn man gesagt hätte, man gehe aus politischen Gründen zur Waffen-SS. Man wäre für verrückt erklärt worden. Man ging zur Waffen-SS, wie man sich zu den Fallschirmjägern meldete. Man wollte zu einer militärischen Eliteeinheit, das war das Ziel.

Der zweite Band Ihrer Lebenserinnerungen nennt sich „Die Abwehrschlacht“. Warum trägt das Buch diesen Titel?

Venohr: Ich habe als Soldat nur an der zweiten Hälfte des Zweiten Weltkrieges teilgenommen. Von der Jahreswende 1942/43 bis 1945, in der Zeit, in der ich Soldat war, hat sich mir der Krieg dargestellt als Abwehrschlacht zur Verteidigung des Reiches. Für mich war es ein großer vaterländischer Krieg. Diese Abwehrschlacht setzte nach der Katastrophe von Stalingrad ein, und nachdem uns die Forderung der Alliierten nach „unconditional surrender“ – bedingungsloser Kapitulation – bekannt geworden war. Von da ab galt es nur noch, das Reich nach allen Seiten zu schirmen und zu verteidigen – deshalb „Die Abwehrschlacht“.

„Im patriotischen Sinne sah ich mich als politischen Menschen“

Wolfgang Venohr: „Die Abwehrschlacht“, Jetzt die Neuauflage im JF-Buchdienst bestellen. >>

Was machte diese Generation damals aus, was trieb sie in diesen unbedingten Einsatz auf Leben und Tod?

Venohr: Eine sehr schwer zu beantwortende Frage. Man muß sich da vielleicht an den israelischen Militärhistoriker Martin van Creveld halten, der dieses großartige Buch „Kampfkraft“ geschrieben hat, die beste Untersuchung, die es über die deutsche Wehrmacht gibt. Er vergleicht dort die deutsche, die amerikanische und die britische Armee. Dabei kommt nicht nur heraus, daß die Wehrmacht die beste Armee der Welt war, sondern es kommt heraus, daß die deutschen Soldaten, wie dieser ausgezeichnete israelische Militärhistoriker feststellt, gar keine politische Ideologie besaßen, sondern daß sie durch die Bank – Luftwaffe, Marine, Heer, Waffen-SS – von Vaterlandsliebe und vom Patriotismus bewegt waren. Das war eine alte Tradition seit der Zeit der Lützowschen Jäger aus den Befreiungskriegen.

Es war einfach normal, sich freiwillig zu melden?

Venohr: Vor allem, wenn man Student, auf einer Oberschule oder einem Gymnasium war, meldete man sich selbstverständlich kriegsfreiwillig sowie der Krieg ausbrach. Das war 1870 so, 1914 so und nun eben auch wieder. Die jungen Leute, die schließlich zur Waffen-SS gingen, waren ja alle keine Mitglieder der Partei. Sie wollten Elitesoldaten sein, und das waren sie dann auch.

Haben Sie sich im Alter von 17 Jahren aber selbst nicht sehr wohl schon als politischen Menschen gesehen?

Venohr: Natürlich, im nationalen und patriotischen Sinne sah ich mich als politischen Menschen. Ich glaubte an die deutsche Geschichte und wollte mein Volk verteidigen.

Welche Rolle hat dahinter die NS-Ideologie für Sie gespielt?

Venohr: Ich war wie alle meine Altersgenossen vor allen Dingen einverstanden und eingebunden in die Hitlerjugend und deren Atmosphäre.

So ungetrübt waren doch aber Ihre Erlebnisse nicht. Sie schreiben in Ihren Lebenserinnerungen, daß Sie in der Hitlerjugend angeeckt sind. Bei einem Fahnenmarsch von Posen nach Kutno hatten Sie öffentlich gegen Brutalitäten an Polen und Juden protestiert. Man habe Sie daraufhin krankenhausreif geprügelt und aus der Hitlerjugend geworfen. Das hat nicht zu grundsätzlichen Zweifeln bei Ihnen geführt?

Venohr: Nein. Ich hielt das für einen Ausrutscher! Ich hielt das für einen isolierten Vorfall im Reichsgau Warteland, für das ganze Altreich gab es diese schwierigen Verhältnisse zwischen Polen und Deutschen ja nicht. Ich sah diese Übergriffe aber als eine Schande. Ich habe deshalb unter Protest als Fahnenträger meine Fahne vor der versammelten Front eingerollt.

Welche Rolle spielte bei Ihrer Haltung Ihre Erziehung?

Venohr: Bei meinen Eltern stand Inhumanität nie zur Debatte.

Fügte sich Ihr Erlebnis nicht aber in eine NS-Ideologie ein, die offen die angebliche Überlegenheit einer „arischen Rasse“ proklamierte und im Kern inhuman war?

Venohr: Wo stand im NSDAP-Parteiprogramm, wo stand in einer der Reden von Adolf Hitler vor der Machtübernahme oder nach der Machtübernahme, vor dem Krieg oder in den ersten Kriegsjahren etwas davon, daß wir Deutschen Europa beherrschen wollten? Überhaupt nicht, da hätte ich gar nicht mitgemacht. Da wäre ich ganz schön sauer geworden. Mein Vater hatte mir eingepaukt: Unser Volk lieben wir, andere Völker achten wir! Die Idee einer rassischen Überlegenheit war uns fremd. Für mich waren die Nationen gleichrangig.

„Mein Großvater nannte Hitler nur ‘den Hosenscheißer’“

Martin Walser nannte in einer Diskussion mit Bundeskanzler Schröder am 8. Mai hier in Berlin das Versailler Diktat als einen der wichtigsten Gründe für Hitlers Aufstieg. Hat Ihre Generation das tatsächlich so erlebt?

Venohr: Walser hat vollkommen recht. Ich würde das sogar viel schärfer beurteilen. Von Versailles führt ein direkter Weg zu Auschwitz. Der erste Bundespräsident, Theodor Heuss, sagte: Die Geburtsstätte der NSDAP ist nicht München, sondern Versailles! Ich beurteile das Versailler Diktat wie der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann, der es 1919 ein Versklavungsdiktat nannte, das das ganze deutsche Volk zum Paria in Europa stempelte. Darüber gab es damals keinen Dissens.

Mein Großvater war als Sozialdemokrat ein leidenschaftlicher Nazigegner und nannte Hitler immer nur „den Hosenscheißer“, was mich als Kind furchtbar empört hat. Wenn aber die Familienrunde zusammensaß, zu der Sozialdemokraten gehörten, ein Polizeileutnant, mein Vater als Nationalsozialist, und sie über Politik diskutierten, dann waren sie sich in einem Punkte alle einig, und da hätten sie auch gleich ein paar Kommunisten mit dazuholen können, nämlich in der Verurteilung und Ablehnung von Versailles.

Und die anhaltende Zustimmung, die Hitler nach 1933 erhalten hat, gründet auch auf die Ablehnung von Versailles?

Venohr: Nicht nur. Vor allen Dingen spielte die materielle Seite eine Rolle. Denn ab Herbst 1934, nach der Röhm-Affäre, läuft merkwürdigerweise die deutsche Arbeiterklasse massenweise zu Adolf Hitler über. 1933 war die Zustimmung noch nicht so allgemein, und in alten Arbeiterfamilien waren die Vorurteile gegen Hitler noch ziemlich stabil vorhanden. Aber etwa ab Herbst 1934 begriffen alle und sahen alle und fühlten alle, wie die Lohntüte wieder voller wurde.

Der unbestreitbare große materielle Aufschwung, eine Art Wirtschaftswunder, das Hitler in der Zeit von 1934 bis 1939 vollbracht hat, hat natürlich eine ganz entscheidende Rolle gespielt. Doch die Ablehnung des Versailler Diktats ist allgemein gewesen! Selbst ein Mann wie Sebastian Haffner, der ja nun alles andere als ein deutscher Nationalist war, erklärte, daß den Deutschen damals von den Alliierten mit vorgehaltener Pistole das Diktat aufgezwungen wurde.

Welche Rolle Versailles für die Armee gespielt hat, ersehen Sie aus dem berühmten Befehl an die Wehrmacht von Generaloberst Beck und Oberst Graf Stauffenberg vom April 1944, der in dem Augenblick über den Großdeutschen Rundfunk verlesen werden sollte, wenn das Attentat auf Hitler geglückt war: Dieser „Aufruf an die Wehrmacht“ begann bezeichnenderweise mit den Worten: „Der gute Glaube der deutschen Soldaten an einen gerechten Krieg zur Wiedergutmachung des Deutschland in Versailles angetanen Unrechts und zur Sicherung der nationalen Unabhängigkeit ist von der NS-Regierung gewissenlos mißbraucht worden …“

Wann wurde Ihnen denn als kämpfender Soldat bewußt, daß das Unrecht von Versailles nur mit neuem Unrecht beantwortet wird?

Venohr: Was das Verständnis des einfachen Soldaten angeht, also vom Gefreiten bis zum Oberleutnant, muß man den Krieg in drei Phasen einteilen: 1939 und 1940 ging es um einen – wie alle glaubten – gerechten Krieg gegen Versailles. Das Unrecht in Posen und Westpreußen, in Elsaß und Lothringen sollte wiedergutgemacht werden, und natürlich sollte auch vor allen Dingen die größte Beleidigung des deutschen Volkes wiedergutgemacht werden. Denn wir waren ja gezwungen worden, in Versailles die Alleinschuld am Ersten Weltkrieg zu übernehmen. Das hat alle Leute tief bedrückt, denn jeder wußte, daß es nicht die Wahrheit war.

Dann kommt eine zweite Phase, es ist die Zeit 1941/42, wo Hitler den Krieg, der ja bis dahin ein begrenzter lokaler Krieg war, ausweitet zum Weltkrieg mit dem Angriff auf die Sowjetunion und mit der Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten. Und in diesen beiden Jahren, ich war nicht dabei als Soldat, sind unsere Landser marschiert bis Stalingrad und bis nach Ägypten und haben nicht genau gewußt, wofür sie eigentlich kämpfen. Sie erfuhren ja von der Propaganda nur, es ginge um den sogenannten Großdeutschen Freiheitskampf gegen die bolschewistische Bedrohung Europas.

Ob das nun alle so geglaubt haben oder nicht geglaubt haben, oder ob viele einfach nur marschiert waren, weil der Befehl so war, das kann ich nicht sagen. Dann kam die dritte Phase des Krieges, die vom Frühjahr 1943 bis Frühjahr 1945 geht. Da war ich dabei. Diese Phase war eine direkte Antwort auf die Tragödie von Stalingrad und vor allen Dingen auf die Forderung nach bedingungsloser Kapitulation im Januar 1943. Das können Sie keinem Soldaten der Welt zumuten, daß er sich einer bedingungslosen Kapitulation unterwerfen soll; dann kämpft er eben bis zur letzten Patrone.

Daß von Versailles ein direkter Weg bis zum 1. September 1939 führt, ist ja noch einsichtig, aber warum noch bis nach Auschwitz?

Venohr: Ich meine das in dem Sinne, daß durch Versailles Hitler entstanden ist. Und ohne Hitler und Himmler gäbe es kein Auschwitz.

„Ich war tief beschämt, als ich davon hörte“

War die Waffen-SS nicht auch an Kriegsverbrechen beteiligt?

Venohr: Ja. Ich erinnere an den Mai 1940, im Frankreichfeldzug, als eine Kompanie der „Totenkopf“-Division in der Nähe von Arras 88 Tommies, die sich bereits ergeben hatten, massakrierte. Eine furchtbare Schweinerei, ein furchtbares Verbrechen, das durch nichts zu rechtfertigen ist und von dem ich erst lange nach dem Krieg gehört habe. Man muß aber auch daran erinnern, daß einen Monat früher, im April 1940, die Briten im Hafen von Narvik mit MGs und Geschützen hilflos schwimmende Matrosen und Offiziere unserer Zerstörer massakriert haben.

Hat die Leibstandarte, Ihre Einheit, Kriegsverbrechen begangen?

Venohr: Nach dem Krieg habe ich mit Entsetzen von dem Malmedy-Kriegsverbrechen gehört. Im Dezember 1944 sollen LAH-Männer bei Malmedy waffenlose Amerikaner massakriert haben. Ich war tief beschämt, als ich davon hörte. Es stellte sich dann aber heraus, daß es eher ein Versehen als ein Verbrechen war.

Wahrscheinlich wurden dort fliehende Amerikaner erschossen, die sich bereits vorher ergeben hatten. Jedenfalls wurde der Malmedy-Prozeß von den Amerikanern mit einer derartigen Brutalität und Barbarei geführt, mit Folterungen, Quälereien und Scheinhinrichtungen, daß von einer gerechten Prozeßfindung keine Rede sein kann. Kriegsverbrechen haben sich im Zweiten Weltkrieg leider alle beteiligten Parteien zuschulden kommen lassen. Ich selbst habe keine erlebt. Hätte ich so etwas erlebt, wäre ich dazwischengegangen. Wie damals 1940 auf dem Fahnenmarsch nach Kutno.

Heute ist die Dimension der Verbrechen bekannt, die im Zweiten Weltkrieg begangen wurden. Sie schreiben aber in Ihrem Buch, daß Sie als Frontsoldat nichts von den Taten der Einsatzgruppen hinter der kämpfenden Front, den Massenerschießungen, den Deportationen mitbekamen und was für Verbrechen in den Konzentrationslagern passierten. War das typisch, daß der Frontsoldat nichts davon mitbekam?

Venohr: Es war nahezu ausschließlich so, daß die Landser an der Ostfront nichts davon mitbekommen haben. Einige haben ganz bestimmt etwas davon mitbekommen, wie z. B. der bekannte Hauptmann von dem Bussche, der ein Attentat für Stauffenberg hatte ausführen wollen und der einmal, als er von der Heimat zur Front fuhr, zufällig in eine Judenerschießung hineingekommen ist.

Ein Ereignis wie die Reichskristallnacht, die Plünderung jüdischer Geschäfte und die Brandstiftungen gegen Synagogen im November 1938 muß Sie doch irritiert haben?

Venohr: Doch. Ich habe das Erlebnis ja auch geschildert in „Erinnerungen an eine Jugend“. Die Eindrücke waren entsetzlich, als ich von einer Radtour nach Dessau zurückkam und sah, wie die Geschäfte geplündert wurden. Ich wollte mich dann auch dazwischenstürzen – ich war in HJ-Uniform – weil ich mir so etwas von meinem Volk nicht vorstellen konnte. Daß die Deutschen so etwas machen konnten, Geschäfte plündern, schien mir undenkbar.

Wie ordnet man das dann in sein Weltbild ein?

Venohr: Natürlich habe ich mit meinen Eltern darüber gesprochen. Meine Mutter hat tagelang geweint, mein Vater war verbiestert und wollte nichts dazu sagen, und ich habe es sicher dann irgendwie vergessen und verdrängt.

„Ich konnte diesen mangelnden Antifaschismus nicht mehr aushalten“

Sie haben sich nach dem Krieg keinen Veteranen-Gruppen angeschlossen, keine Treffen von Kriegsteilnehmern besucht. Fühlten Sie sich unwohl?

Venohr: Einmal war ich auf einem solchen Treffen der HIAG, Verband ehemaliger Waffen-SS-Angehöriger. Mir hat das gereicht, was ich dort erlebt habe. Ich konnte diesen mangelnden Antifaschismus nicht mehr aushalten. Kein Wort der Kritik an Hitler, kein Wort der Kritik an der früheren Führung. Es war bei diesem Veteranentreffen so, als wäre man noch in den alten Zeiten des Dritten Reiches. Das ging mir unendlich auf die Nerven.

Was noch viel wichtiger war: Mir waren diese Organisationen zuwider, weil ich feststellen mußte, daß aus den meisten auf einmal große Kalte Krieger geworden waren – gegen den Osten, gegen die Sowjetunion und natürlich gegen die DDR. Die Kommunisten waren alles böse Verbrecher, alles böse dunkle Männer und von den Westalliierten wurde überhaupt nicht mehr gesprochen, das waren ja jetzt unsere Verbündeten und Lichtgestalten.

Sie beschreiben in Ihrem Buch, wie sie etwa drei Jahre nach Kriegsende, durch intensive Lektüre politischer und historischer Schriften, mit dem Nationalsozialismus abschließen. So schreiben Sie in Ihrem Buch: „Unter Schmerzen zog ich Bilanz: Hitler und die Deutschen, zwölf Jahre lang auf Leben und Tod miteinander verbunden, hatten für unterschiedliche Ziele gekämpft, ihr Glaube war nicht identisch, war niemals deckungsgleich gewesen. Die deutschen Soldaten waren ‚für Großdeutschland‘ gefallen, ihr Führer und Oberster Befehlshaber spottete insgeheim über nationale Ziele, steuerte ganz andere Horizonte an.“

Und weiter: „So furchtbar die Erkenntnis an und für sich war, so schärfte sie doch zugleich meinen Blick für die politischen Aufgaben der Gegenwart, jetzt im Jahre 1948.Wenn Hitlers Politik imperialistisch und damit zutiefst antinational gewesen war, so entstand für die Überlebenden der großen Katastrophe die Verpflichtung, nun so national wie möglich zu sein! Das hieß konkret: mit allen Mitteln für das Überleben, für die Existenz und für die Einheit der deutschen Nation zu kämpfen.“ Viele Ihrer Generation kamen nach der Katastrophe des Dritten Reiches zu einem völlig anderen Ergebnis: Für die lag das Übel im Nationalismus selbst.

Venohr: Die Frage ist: Was hatte Hitler mit der deutschen Geschichte und der deutschen Nation zu tun? Wenn ich an Deutschland dachte, dann dachte ich an Heinrich I. und Bismarck und Friedrich den Großen, an Mozart, Beethoven, Johann Sebastian Bach, aber doch nicht dieser Mann! Der Zusammenbruch des Dritten Reiches hat mich doch nicht im geringsten innerlich dazu bewegt, den Glauben an Deutschland aufzugeben! Nicht im geringsten.

Sie haben immerhin beim Zusammenbruch mit Selbstmordgedanken gespielt.

Venohr: Ja, das habe ich. Es gab dunkle Stunden, dunkle Stunden der Verzweiflung und der Hoffnungslosigkeit, die gingen aber vorbei. Sie gingen vorbei, und dann habe ich einen Selbstschulungsprozeß durchgemacht durch meine intensive Lektüre, der hat mich aufgerichtet und mir die Verpflichtung auferlegt weiterzukämpfen: für die Einheit Deutschlands.

Die Freundschaft zu Margret Boveri, die Sie bei Ihrem Studium in Berlin Ende der vierziger Jahre kennenlernten, hatte großen Einfluß auf Sie, bei der Sie auch erstmals Sebastian Haffner begegneten. Welche Bedeutung hatte diese Bekanntschaft für Sie?

Venohr: Margret Boveri, eine Halb-Amerikanerin, war nicht nur eine große deutsche Publizistin, sondern auch eine große deutsche Patriotin. Sie kehrte 1941 freiwillig aus den USA nach Deutschland zurück, um das Schicksal ihres Volkes zu teilen. Sie hat mich zu Stauffenberg als Vorbild herangeführt. Und bei ihr lernte ich Sebastian Haffner kennen, mit dem ich dann viele Filme und Bücher gemeinsam gemacht habe. Er selbst hat mich in einem Interview Anfang 1989 einen „großen deutschen Nationalisten“ genannt, mit dem er eng befreundet gewesen sei. Das stimmte für die Zeit von 1963 bis 1983, als wir zusammen für die Deutsche Einheit stritten.

„Wir waren Neutralisten und keine Pazifisten“

Viele Ihrer Altersgenossen hatten doch erst einmal nach 1945 von politischen Utopien die Nase voll. Woher nahmen Sie Ihren politischen Idealismus?

Venohr: Mir war klar, daß eine Militarisierung der Bundesrepublik, wie sie damals von der Regierung Adenauer geplant wurde, nur zu einer Zementierung der Spaltung Deutschlands führen könne. Deshalb schloß ich mich 1950 der Hamburger Gruppe „Dritte Front“ an, die ein neutrales Deutschland forderte, weil nur so eine Überwindung der Teilung realistisch erschien und nur so zu verhindern war, daß Deutschland in eine eventuelle militärische Auseinandersetzung der Blöcke hineingezogen werden würde. Ich baute die Berliner „Dritte Front“-Gruppe auf, die 15 Mann umfaßte, alles junge Studenten.

Wir klebten nachts Plakate mit der Aufschrift „Bruderkrieg? Kein deutsches Blut für Truman oder Stalin“ an die Häuser oder Aufkleber mit Parolen wie „Kein Bruderkrieg für Pankow oder Bonn!“ an die Scheiben der S-Bahn-Waggons. Wir organisierten politische Veranstaltungen oder besuchten selber welche und kippten durch unsere Interventionen dort fast immer die Stimmung.

Auch Kommunisten, Sozialdemokraten, Liberale und andere kämpften gegen die Wiederbewaffung. Sah man sich als Konkurrenten oder als Verbündete?

Venohr: Die FDJ war natürlich nur gegen die Wiederbewaffnung im Westen, und die Sozialdemokraten hatten uns wegen unseres Nationalismus stets im Verdacht. Und auch mit den Pazifisten hatten wir eigentlich nicht viel am Hut, denn wir selbst waren zwar gegen die Wiederbewaffnung, aber nicht aus pazifistischen Gründen. Wir waren Neutralisten und keine Pazifisten. Wir wollten keine Remilitarisierung, weil sie die deutsche Einheit verhinderte. Wenn ein neutrales, souveränes Gesamtdeutschland erreicht worden wäre, wären wir durchaus für eine eigene Verteidigungsarmee eingetreten.

Sie haben sich in Ihrem Leben stets zur Linken hingezogen gefühlt. In einem Gespräch mit dieser Zeitung sagten Sie einmal: „Selbstverständlich ist die Nation eine linke Idee.“ Kamen Sie sich in dieser Haltung nicht zunehmend einsam vor?

Venohr: Ja, sicher, das stimmt schon. Diese Spaltung zwischen links und national habe ich immer beklagt. Die gibt es ja in keinem anderen Volk der Erde, die gibt es nur bei uns. Ein französischer Sozialist kann ein glühender französischer Nationalist sein, und ein Pole ist überhaupt ein geborener Nationalist, ganz egal ob er Kommunist, bürgerlich oder ein katholischer Pfaffe ist, das spielt gar keine Rolle. Bei uns ist nach Versailles ein tiefer Bruch erfolgt zwischen links und national.

Wie konnten Sie sich als Publizist quer zu allen politischen Lagern etablieren?

Venohr: Daß ich meine Zeitungsartikel in der Welt, der Zeit und der FAZ geschrieben habe, daß ich so viele Filme machen konnte, die ja auch mit großen Preisen versehen wurden, das lag einfach daran, daß ich das Etikett aufgeklebt bekommen hatte, ein Niekisch-Mann zu sein, ein „roter Preuße“. Und dafür hatte man damals ein gewisses Faible.

„Der Geist steht links oder rechts – aber nie in der Mitte“

Sie haben die Fernsehdokumentations-Reihe „Außergewöhnliche Außenseiter“ gemacht. Woher diese Vorliebe für Außenseiter – vielleicht, weil Sie selbst einer sind?

Venohr: Vielleicht, aber es lag wohl einfach daran, daß diese von mir für das Fernsehen portraitierten Außenseiter – von Links zum Beispiel Martin Niemöller, Probst Gröbert, Ernst Niekisch, Richard Scheringer, von Rechts Ernst von Salomon, Ernst Jünger oder Armin Mohler – mir immer viel interessanter erschienen als die langweiligen Parteiredner in Bonn. Diese Leute hatten einfach mehr Geist, mehr Esprit. Man könnte in Anlehnung an den Spruch „Der Geist steht links“ formulieren: „Der Geist steht links oder rechts – aber nie in der Mitte“.

Mit dem 3. Oktober ist aber ein Traum für Sie in Erfüllung gegangen.

Venohr: Ja. Mein Auftrag war die deutsche Einheit. Die haben wir 1990 Gott sei Dank erreicht. Und wir haben sie erreicht durch das deutsche Volk, durch die Aufständischen vom Juni 1953 und vom November 1989. Damit hatte keiner der Herrschenden in Bonn und Ost-Berlin gerechnet. Aber ich hatte immer geschrieben und verkündet: „Die deutsche Einheit kommt bestimmt.“

 

Über das Buch:

Die Darstellung ist geprägt vom heißen Atem der Front, von den Leidenschaften des Kampfes, von der glühenden Vaterlandsliebe eines 17- bis 19jährigen jungen Menschen. So erklärt sich auch der erstaunliche Frontenthusiasmus, der aus jeder Zeile spricht. Dabei wird nichts verschwiegen; eine Romantisierung der Waffen-SS findet nicht statt.

Die unglaubliche Brutalität der „Troßknechte“ in der Etappe kommt ebenso zur Sprache wie das Phänomen der politischen Blindheit, das die Männer an der Front gefangenhielt, oder mein hoffnungsloser Versuch, diese Blindheit aufzubrechen, der mich fast vor das Kriegsgericht brachte. Spätere Erkenntnisse und Einsichten der Nachkriegszeit sind absichtlich nicht berücksichtigt worden, um der Authentizität, um der Ehrlichkeit keinen Abbruch zu tun.

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Dr. Wolfgang Venohr geboren 1925 in Berlin, studierte Geschichte und Germanistik. Bevor er von 1965 bis 1985 als Chefredakteur bei „Stern TV“ und „Lübbe TV“ tätig war, arbeitete er bei verschiedenen Tageszeitungen. Zwischen 1969 und 1974 wurde er bekannt als der einzige westdeutsche Journalist, der aus der DDR direkt berichten durfte. Am 26. Januar 2005 starb Venohr in Berlin.

JF 23/02

Wolfgang Venohr (1925-2005) und seine neu aufgelegten Jugenderinnerungen Foto: Jf-Montage
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