Anzeige
Anzeige

Interview mit Militärvlogger Torsten Heinrich: „Nuklearangriff Rußlands wäre geopolitischer Selbstmord“

Interview mit Militärvlogger Torsten Heinrich: „Nuklearangriff Rußlands wäre geopolitischer Selbstmord“

Interview mit Militärvlogger Torsten Heinrich: „Nuklearangriff Rußlands wäre geopolitischer Selbstmord“

Rußlands Präsident Wladimir Putin beobachtet ein Manöver
Rußlands Präsident Wladimir Putin beobachtet ein Manöver
Rußlands Präsident Wladimir Putin beobachtet ein Manöver – ein Atomangriff wäre politisch unklug Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Mikhail Klimentyev
Interview mit Militärvlogger Torsten Heinrich
 

„Nuklearangriff Rußlands wäre geopolitischer Selbstmord“

Neben der immer noch ungeklärten Urheberschaft des Angriffs auf die Nord Stream Pipelines, ist auch die Frage der Waffenlieferungen an die Ukraine hierzulande virulent. Dazu und Folgen eines möglichen russischen Atomangriffs sprach die JF mit dem Militärexperten Torsten Heinrich.
Anzeige

Der technologische Fortschritt im Militär zeigt sich im 21. Jahrhundert nicht nur bei den Waffensystemen, sondern auch bei der Art und Weise, wie Medien den Krieg begleiten und im Krieg genutzt werden. Der Ukraine-Krieg dürfte der mit am besten journalistisch, fotografisch und videotechnisch dokumentierte Krieg sein. Jeder Handynutzer kann Informationen visuell oder textlich aus dem Kriegsgebiet in die Welt hinaussenden. Sogenannte Milblogger oder Vlogger (kurz für Militärblogger oder Videoblogger) informieren mittlerweile ausführlicher und oft sachkundiger über den Krieg in Osteuropa und andere Konflikte als die etablierten Medien. 

Im deutschsprachigen Raum hat sich der YouTuber „Militär und Geschichte“, mit bürgerlichem Namen Torsten Heinrich, einen Namen als Militärexperte im Internet gemacht. Hunderttausende schauen seine Videos und jede Woche schalten sich Tausende in seinen Lagebericht ein, der als Livestream mehrstündig über das aktuelle Kriegsgeschehen informiert. 

Wie schätzt er die Lage in der Ukraine ein und wieviel Arbeit steckt hinter seinem YouTube-Kanal? Die JF fragt nach. 

Die kontroverse Frage zuerst: Wer hat die Nordstream Pipelines sabotiert? Es kursieren unterschiedliche Theorien bezüglich der Täterschaft. Ein ehemaliger polnischer Verteidigungsminister, Radoslaw Sikorski, dankte auf Twitter den USA in dem Zusammenhang. Motiv und Möglichkeiten hätten die Amerikaner sicherlich. Welche Argumente gibt es Ihrer Meinung nach, die dagegen sprechen und wer käme noch in Frage? 

Torsten Heinrich: Der politische Schaden, sollte herauskommen, daß es die Amerikaner waren, wäre zu groß. Die für die Versorgungssicherheit wichtige Infrastruktur eines Verbündeten anzugreifen, würde viel zu viel politisches Porzellan zerschlagen, als daß es dies wert wäre. Dazu ist die Ostsee so gut überwacht und amerikanische Flottenverbände operieren meist mit Schiffen anderer Nato-Nationen, als daß die Amerikaner ein wahrscheinlicher Kandidat für so eine Aktion wären.

„Mobilmachung rechtfertigt radikalere Schritte“

Wer es tatsächlich war, ist aktuell nicht seriös zu sagen, da ja bislang keinerlei Beweise bekannt sind. Auffallend ist allerdings, daß die Sprengung binnen einer Woche nach der Mobilmachung in Rußland erfolgte, wo Moskau ja den Ernst der Lage offiziell eingestand. Gleichzeitig blieb ein Rohr von Nord Stream 2 unangetastet. Welche ernstzunehmende Militärmacht würde es versäumen, ein Rohr unbehelligt zu lassen, wenn dies nicht beabsichtigt wäre? Dazu wurde ziemlich zeitgleich eine in unmittelbarer Nähe verlaufende Pipeline nach Polen eingeweiht. Nimmt man diese Dinge zusammen, so scheint mir eine russische Urheberschaft möglich und wahrscheinlich.

Der mit der Mobilmachung bewiesene Ernst der Lage rechtfertigt radikalere Schritte. Eine nutzbar gebliebene Röhre, aber natürlich von Nord Stream 2 , erlaubt das Erzwingen politischer Zugeständnisse von Deutschland, während keine Vertragsstrafen bei ausbleibenden Lieferungen anfallen, da ja höhere Gewalt. Zudem kann die Sprengung auch als Demonstration von Fähigkeiten und Willen verstanden werden, was andere Pipelines und Unterseekabel angeht. Wer Nord Stream 2 sprengt, der kann auch die aus Norwegen kommenden Pipelines, Strom- und Kommunikationskabel sprengen. Indem Rußland hier „seine“ Pipeline gesprengt hätte, auch noch direkt vor den dänischen Hoheitsgewässern, hätte es noch keinen Kriegsakt gegen ein Nato-Land begangen, gleichzeitig aber eine eindrucksvolle Warnung geschickt.

Diese Theorie überzeugt mich bislang am meisten, gerade wenn man Kosten-Nutzen der anderen potentiellen Täter ansieht. Aber, und das muß betont werden, es ist und bleibt natürlich nur eine Theorie.

„Kampfkraft Rußlands wird nicht steigen“

Rußlands Präsident Wladimir Putin hat die Teilmobilmachung befohlen. Es häufen sich die Meldungen über desaströse Zustände in den Kasernen der Einberufenen und die veraltete Ausrüstung, die der Kreml mittlerweile an seine Reservisten verteilt. Welchen Effekt können die Mobilgemachten auf dem Schlachtfeld jetzt noch haben und welche Reaktionen erwarten Sie aus der Ukraine und dem Westen darauf? 

Heinrich: Nach den bisherigen Erkenntnissen konzentriert sich die Mobilmachung überproportional auf ethnische Minderheiten und ärmere Regionen. Die ersten Mobilisierten sind bereits an der Front, die anderen werden wohl nur einen Monat ausgebildet. Zahlreiche Videos sprechen dafür, daß die Moral eher noch schlechter sein wird als die der bislang im Einsatz befindlichen Soldaten.

Dazu sollen laut Verteidigungsminister Sergei Shoigu keine neuen Einheiten aufgestellt werden, sondern vielmehr bestehende Verbände wieder aufgefüllt werden. Die in diesen Verbänden verbliebenen Veteranen erhalten damit aber auch jetzt noch keine Erholung, keinen Fronturlaub.

Der Militärexperte Torsten Heinrich analysiert den Ukraine-Krieg
Der Militärexperte Torsten Heinrich analysiert den Ukraine-Krieg Foto: YouTube Screenshot

Im ganzen ist also mit schlechter ausgebildeten, schlechter motivierten und schlechter ausgerüsteten Soldaten zu rechnen, die angesichts großer gerade erfolgter Niederlagen glauben, sie werden in einen Krieg geschickt, den sie verlieren. Der dabei zu erwartende Kampfwert wird weit geringer sein als der jener Soldaten, die am 24. Februar die Grenze überquert haben. Der ukrainische Oberkommandierende Valerii Zaluzhnyi sagte dazu: „Wir haben ihre professionelle Armee zerstört, jetzt werden wir ihre unprofessionelle Armee zerstören.“ Ich bin geneigt, ihm zuzustimmen. Einen generellen Übergang der strategischen Initiative zur russischen Seite sehe ich mit der Mobilmachung nicht kommen.

Welche Waffensysteme des Westens erweisen sich als besonders effektiv? Woran mangelt es den Ukrainern, was beispielsweise der Westen liefern könnte? 

„HIMARS brachen russische Artillerieüberlegenheit“

Heinrich: Die weitreichende Präzisionsartillerie, vor allem HIMARS-Raketenwerfer, aber auch die Excalibur-Granaten für die Nato-155mm Haubitzen haben sich als entscheidend erwiesen. Als Rußland den Bewegungskrieg nach seiner Niederlage vor Kiew aufgegeben hatte und Versuche eines raumgreifenden Vormarschs mit tiefen Ein- und Durchbrüchen mit einem systematischen Vorrücken unter schwerem Artilleriefeuer versucht, konnte Moskau den Effekt der schlechten Moral seiner Soldaten verschleiern und seine Überlegenheit bei der Artillerie voll ausspielen.

Vor allem HIMARS haben dem ein Ende gesetzt, da sie bis weit hinter der Front die Munitionslager der Russen zerstören konnten. Auf den FIRMS-Satelliten der Nasa war nach dem Beginn des HIMARS-Einsatzes deutlich zu sehen, wie die Zahl der durch Artilleriebeschuß ausgelösten Feuer beständig zurückging. Am Ende ist ein Artilleriegeschütz ohne Munition eben nur ein Stück Altmetall. Der Einsatz dieser Waffen hat damit zunächst die russischen Munitionslager zerstört und anschließend deren Verlegung weiter zurück erzwungen, was das ankommende Volumen an Munition erheblich verringert hat.

Was die Ukrainer bräuchten? Die simple Antwort ist wohl: alles. Fast kein Waffensystem in einer modernen Streitkraft hat keine Daseinsberechtigung. Die meistgenannten und am wenigsten gelieferten Systeme dürften Kampfpanzer und Schützenpanzer sein, wo der Bestand an sowjetischem Material sich wohl langsam seinem Ende zuneigt und man daher bald westliches Material liefern muß oder nichts mehr liefern wird. In diesem Fall hätte allerdings besser längst die Ausbildung beginnen sollen.

Mehr Flugabwehr würde die Bedrohung durch Drohnen und Marschflugkörper im Hinterland verringern und russische Flugzeuge und Hubschrauber von der Front abdrängen, was den ukrainischen Streitkräften mehr Handlungsspielraum und der ukrainischen Luftwaffe mehr Einsatzmöglichkeiten geben würde. Mehr Artillerie, ob selbstfahrend oder gezogen, in Nato-Kalibern, würde im Verbund mit Artillerieortungsradar der ukrainischen Seite einen dringend benötigten Vorteil im Artillerieduell geben. Aber auch Drohnen, Winterausrüstung, logistische Fahrzeuge, Funkgeräte und vieles mehr. Ein um sein Vielfaches gewachsenes Militär mit laufenden Verlusten benötigt faktisch wohl so ziemlich alles, erst recht, wenn gleichzeitig auch beabsichtigt ist, seine Ausfälle gering zu halten.

„Atomangriff Rußlands bringt keinen taktischen Nutzen“

Von seiten deutscher Militärs und Experten wird hin und wieder gesagt, daß Rußland die „Eskalationsdominanz“ hätte. Welche Optionen bleiben Putin, sollte die Ukraine weitere Teile ihres Staatsgebiets zurückerobern?

Heinrich: Rußland kann sich auf seine Tradition besinnen und die Generalmobilmachung ausrufen. Es kann versuchen, die Ukrainer mit einem Millionenheer zu erdrücken. Angesichts einer Reproduktionsrate von 1,5 wäre dies demographischer Selbstmord. Aber da es inzwischen wohl längst nur noch um den Machterhalt der Clique im Kreml geht, ist dies eine nicht gänzlich unrealistische Option. Ansonsten bliebe noch eine Drohung mit Kernwaffen, von der sich die Ukraine jedoch nicht einschüchtern lassen wird. Sollte der Einsatz erfolgen, so sollte damit zu rechnen sein, daß Rußland auch die letzten der Staaten als Unterstützer verliert, also beispielsweise China, Indien und Brasilien. Ein Einsatz von Kernwaffen in einem Angriffskrieg wird auch für die meisten angeblichen Verbündeten Rußlands inakzeptabel sein.

Was könnte sich Moskau vom Einsatz taktischer Nuklearwaffen erhoffen? Die Ukraine scheint fest entschlossen, auch angesichts nuklearer Drohungen weiterzukämpfen.

Heinrich: Taktische Kernwaffen haben nur einen sehr beschränkten Nutzen in diesem Krieg. Direkt an der Front sind sie nicht einsetzbar, solange man nicht die eigenen Truppen mit vernichten will. Ein Einsatz müßte also im Hinterland gegen Verkehrsknotenpunkte, auf Aufmarschgebiete oder ähnliches erfolgen. Hier kann die Ukraine durch Auflockerung ihrer Aufstellung die Effekte erheblich verringern. Nach der sowjetischen Doktrin würde anschließend ein Durchstoßen durch das gerade bombardierte Gebiet erfolgen, aber dafür fehlen Rußland inzwischen die ausgebildeten und entsprechend ausgerüsteten Truppen.

Jeder, der selbst gedient hat, weiß, wie unangenehm und kompliziert alleine das Anlegen der Schutzkleidung ist, von darin kämpfen und leben ganz zu schweigen. Ich sehe also auch im Einsatz taktischer Nuklearwaffen keine Lösung Rußlands, zumal der Einsatz geopolitischer Selbstmord wäre. Moskau könnte alternativ natürlich einen strategischen Einsatz von Kernwaffen androhen und dann durchführen, also gegen ukrainische Städte. Dies müßte die Ukraine natürlich zeitnah zur Kapitulation zwingen. Hier ist allerdings aktuell völlig unklar, wie die USA darauf reagieren würden. An den internationalen Folgen würde dies nichts ändern, es würde sie nur noch verschlimmern.

————————————————-

Lesen Sie hier den zweiten Teil des Interviews

Hier geht es zum YouTube-Kanal „Militär & Geschichte mit Torsten Heinrich“.

Rußlands Präsident Wladimir Putin beobachtet ein Manöver – ein Atomangriff wäre politisch unklug Foto: picture alliance / ASSOCIATED PRESS | Mikhail Klimentyev
Anzeige
Anzeige

Der nächste Beitrag