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Marc Jongen, ESN Fraktion
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„Die Einheit ist nicht gescheitert“

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Herr Professor Rehberg, ein Teil der Anti-Hartz-Demonstranten in den neuen Ländern wird durch das Arbeitslosengeld II nicht schlechter, sondern sogar ein kleines bißchen besser gestellt. Wieso nehmen diese Menschen dennoch an den Protesten teil? Rehberg: Hartz IV ist eine Quelle der Sozialangst, zugleich aber auch Anlaß, in den sogenannten Montagsdemonstrationen einen Protest grundsätzlicher Natur zu artikulieren. Joschka Fischer und Franz Müntefering sind da offensichtlich anderer Ansicht. Sie wollen den Menschen Hartz IV künftig „besser erklären“. Alles nur ein Kommunikationsproblem? Rehberg: Erstens wird auch eine „bessere Vermittlung“ die Akzeptanz für Hartz IV in den neuen Ländern kaum erhöhen. Warum? Weil es eine unüberbrückbare Diskrepanz gibt zwischen den tatsächlichen Maßnahmen zur Umorganisierung des Sozialstaates und der Behauptung der Regierung, es gehe um eine Belebung des Arbeitsmarktes – oder wie Herr Müntefering seit neuestem zu wiederholen nicht müde wird, um die „Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit“. Der Haken ist nur: Genau das ist nun wirklich nicht zu erwarten. Zweitens, selbst wenn Hartz IV für die Menschen in den neuen Ländern plausibel wäre, für die Verdrossenheit vieler dort ist das Gesetz eben der berühmte „Tropfen auf den heißen Stein“. Seit 15 Jahren verspricht die Bundesregierung – erst unter Kohl, dann unter Schröder – eine Senkung der Arbeitslosigkeit, aber die Situation bessert sich nicht. Auch den Deutschen im Westen wird das seit Jahrzehnten versprochen, auch hier ändert sich nichts, und die Härten von Hartz IV werden eher im Westen zum Tragen kommen als in den neuen Ländern. Müßte der Aufstand also nicht in gleichem Maße auch hier ausbrechen? Rehberg: Die alten Länder hatten ein 1968, die neuen ein 1989. Das bedeutet die in der deutschen Geschichte seltene Erfahrung, daß man in einer moralischen Revolte von unten die Mächtigen in die Knie zwingen kann. Aufschlußreich ist, daß viele es ablehnen, Politiker zu Wort kommen zu lassen. Man versteht sich als betont apolitisch, bewegt sich in einer Gemeinschaft der moralischen Entrüstung. Abstand zur Politik als Mittel politischer Durchsetzung kristallisiert sich etwa in einer „Institution“ wie Pfarrer Führer, der 1989 die Montagsgebete in der Leipziger Nikolaikirche organisiert hat. Also doch keine Chance für Protestparteien, deren Erstarken derzeit alle befürchten? Rehberg: Wie eine solche Formation aussehen könnte und ob sie Erfolg haben würde, ist schwer vorherzusagen. Die Situation muß nicht zwangsläufig zum Erfolg von Protestparteien – erst recht nicht zu einem langfristigen – führen. In der SPD-Basis etwa ist die Zustimmung zu diesen „Reformen“ schwach, die Loyalität aber noch groß genug, um diese Politik nach dem „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ – wie Dahrendorf das nannte – und die daraus folgenden Wahlniederlagen mehr erstarrt als stoisch zu ertragen. Der Rekurs auf die Montagsdemonstrationen von 1989 stellt also nicht nur eine Plattform des Protests gegen „die da oben“ dar, sondern ist auch Ausdruck einer spezifischen Tradition der Deutschen in den neuen Ländern? Rehberg: Besser gesagt: eine spezifische Erfahrung. Wichtig ist dabei die Erinnerung an die Notgemeinschaft eines Widerstandes – damals gegen die bevormundende SED, heute gegen „die Politik“, die „uns“ offenbar aufgegeben oder zumindest vergessen hat. Zwar hat sich die Infrastruktur hierzulande phantastisch verbessert und die Innenstädte, die am Ende der DDR kurz vor dem Verfall standen, wurden regelrecht „in letzter Minute“ gerettet, aber die Menschen erleben durch die flächendeckende Deindustrialisierung zugleich, daß hier oft Theaterbühnen ohne Schauspieler entstanden sind. Merkwürdigerweise sind – bei aller Zustimmung zu den Verbesserungen der Lebenslage – Ost- und Westdeutsche sich darin einig, daß die im Osten investierten Transfermittel nicht „richtig“ eingesetzt worden seien. Also ein Aufstand gegen den Westen, das Scheitern der deutschen Einheit? Rehberg: Nein, die Proteste richten sich nicht gegen den Westen an sich, eher gegen die Überlagerung der neuen Länder durch die alten. Auch will doch fast keiner der Protestierenden die DDR zurückhaben. Erst dann könnte man von einem Scheitern der Einheit sprechen. Aber davon kann keine Rede sein. Denken Sie nur an die Ressentiments gegen die Parteiendemokratie in Westdeutschland nach 1945. Das Wirtschaftswunder bewirkte, daß es „den Westdeutschen schließlich so gut ging, daß sie sogar Demokraten werden konnten“. Dagegen sind die Ressentiments in den neuen Ländern milde. Ähnlich verhält es sich mit der Deutung, in den neuen Ländern sei etwa ein Viertel aller Menschen „nicht in der die Demokratie angekommen“. Tatsächlich haben die Leute nichts gegen die demokratischen Freiheitsrechte, mißtrauen aber den Selbstberuhigungsformeln der politischen Klasse und vielleicht auch einer Arroganz, wie sie von Wirtschaftsminister Clement geradezu demonstrativ gezeigt wird. Woher rührt diese spezifische Enttäuschung? Rehberg: Sie hat eine Vielzahl von Ursachen, so haben die ehemaligen DDR-Bürger zum Beispiel eine eigentümliche Vorstellung über den Kapitalismus, den Staat und die Arbeit aus der DDR „mitgebracht“. Sie schreiben die Verbesserung der Konsumlage vor allem der Wirtschaft zu, während sie die Probleme des Kapitalismus, besonders die Arbeitslosigkeit, dem Staat zurechnen. Dank dieser Aufspaltung des Kapitalismus wird die Arbeitslosigkeit zur Krise staatlichen Handelns, zum Symbol der Begrenzung der Souveränität im Inneren – und das ist nun durchaus realistisch. Im Hinblick auf den Staat hat man zudem eine Grundskepsis festgehalten: Für die Mehrheit der DDR-Bürger besaß ihr Staat durchaus eine Legitimität, die aber bekanntlich mit einer großen Unzufriedenheit gepaart war. So entstand eine Halbdistanz zu den politischen Verhältnissen, die – gestützt auf eine Art (protestantischer) Zwei-Welten-Lehre: „Im Inneren bin ich authentisch, im Äußeren muß ich mich arrangieren“ – auf die Situation nach der Wiedervereinigung transponiert wurde. Für die Westdeutschen ist die damit verbundene halbe Rechtfertigung der diktatorischen DDR zu wenig und der verdrossene Abstand zur demokratischen Bundesrepublik zu viel. So entwickelte sich Mißtrauen hüben wie drüben. Der dritte Faktor ist die Tatsache, daß die DDR nicht nur eine Arbeitsgesellschaft, vielmehr eine Arbeitsplatzgesellschaft war. Der Arbeitsplatz war nicht nur garantiert, er definierte auch in großem Maße das soziale und kulturelle Leben. Das ist nur eingeschränkt zu vergleichen mit dem eher individuell bestimmten sozialen Umfeld der Menschen in Westdeutschland. Die Leute haben also nicht nur ihre Arbeit, sondern auch ihre soziale Einbindung verloren, sehen sich von Arbeitslosigkeit viel existentieller betroffen und in ihrem Verständnis von der sozialen Rolle der Arbeit enttäuscht. Also liegt die Ursache der Anti-Hartz-Proteste in der Zeit vor 1990? Rehberg: Nein, auch während und nach der Vereinigung sind Fehler gemacht worden. So resultierte ein Teil der Unzufriedenheit der DDR-Bürger mit dem Staat daraus, daß er bis heute Probleme mit Euphemismen bemäntelt. In der DDR bestimmte das die inoffizielle Rhetorik auf allen gesellschaftlichen Ebenen – heute redet man so von ökonomistischer und neoliberaler Seite, denken Sie etwa an eine Selbsttäuschungsformel wie „Minuswachstum“. Schon der eigentliche Name für Hartz IV – „Viertes Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ zeugt alleine von Sprachkosmetik. Ein Höhepunkt war das zynische Wort von der „Ich-AG“, also die Übertragung des Begriffes für die reichsen Kapitalgesellschaften auf die hoffnungslosesten Lebenslagen. Das erinnert – wenn auch in „modern-dynamischer“ Form – an Problem-Verleugnung à la SED. Dazu kommen demütigende Erfahrungen infolge der Deindustrialisierung der neuen Länder, die in so drastischer Weise wohl ein einmaliger Vorgang in der uns bekannten Geschichte war – eine soziale Katastrophe ersten Ranges! Was die Enttäuschung über den Sicherheitsverlust nach 1989 angeht, muß man an eine zweite Einmaligkeit erinnern: daß nämlich eine ganze Gesellschaft – die der DDR – aus dem Medienhorizont einer anderen – der der Bundesrepublik – gelebt hat. Die DDR-Bürger waren durch Westfernsehen und -radio maßgeblich mitbestimmt, was so weit ging, daß in den eigenen Medien – etwa, wenn das Neue Deutschland etwas „richtigstellte“ – sogar auf Dinge Bezug genommen wurde, die eigentlich gar niemand hätte sehen oder hören dürfen. Hinzu kommt schließlich: Wenn ein Unterlegenheitsgefühl existiert, können sogar gewaltige Transferleistungen Anteil an der Frustration der Menschen haben. Allerdings glaube ich, daß die Menschen die Verbesserungen der Lebensqualität durchgängig als sehr positiv bewerten – aber mit dem Gefühl, daß dies eine Selbstverständlichkeit sei. Das klingt beinahe, als sei diese Krise unausweichlich gewesen. Rehberg: Nicht unbedingt. Oskar Lafontaine hatte im Bundestagswahlkampf 1990 die wirtschaftlichen Probleme und finanziellen Belastungen richtig erfaßt. Und eine Politik der Offenheit und der Betonung der Mühen, die bei einem derart radikalen Gesellschaftsumbruch unvermeidlich sind, hätte vielleicht weniger Illusionen genährt. Aber vielleicht konnte Helmut Kohl als „Kanzler der Einheit“ ja auch nur so erfolgreich sein, weil er inkompetent genug war, um die Nebenfolgen des Handelns auszublenden. Jedenfalls halte ich es für ein großes Unglück, daß Lafontaine seine Prognosen über die wirtschaftlichen Folgen der Wiedervereinigung mit einem Ressentiment gegen diese verknüpft hatte. Liegt der Fehler vielleicht darin, die Wiedervereinigung auf die Ökonomie und Soziales reduziert zu haben? Wäre es nicht ebenso wichtig gewesen, die DDR-Bürger an einer neuen, gesamtdeutschen Identität teilhaben zu lassen? Rehberg: Das hätte vielleicht einen Effekt auf einige Intellektuelle und die Bürgerrechtsgruppen gehabt. Etwa, wenn man eine gemeinsame Verfassung ausgearbeitet hätte, aber ich glaube nicht, daß dies die Einschätzung der Lage grundlegend verändert hätte. Man muß an den Zwang denken, fast alles neu zu lernen, an die Entwertung so vieler Erfahrungen – das war bestimmender. Zeigen andere Länder nicht, daß gerade die „einfachen“ Leute durch die Geborgenheit in der nationalen Gemeinschaft integriert werden? Rehberg: Ich glaube nicht, daß es „die Nation“ sein muß – wenngleich nationale Gemeinschaften diese Funktion erfüllen. Die positive Wirkung identitätsstiftender Muster hat sich etwa bei der Wiedereinrichtung der Länder erwiesen, wo – wie in Sachsen und Thüringen – eine Art regionaler „Patriotismus“ zur politischen und sozialen Stabilisierung wesentlich beigetragen hat. Aber – abgesehen davon, daß wir froh sein können, daß die vor der Wiedervereinigung befürchtete Nationalismus-Welle ausgeblieben ist – läßt sich so etwas nicht bei Bedarf neu stiften. Woran hapert es diesbezüglich in Deutschland? Rehberg: Das Problem ist, daß die Deutschen nach 1945 aus ihrer gemeinsamen Geschichte geflohen sind: die Westdeutschen in die Westbindung, die Ostdeutschen in die Geschichtsphilosophie. Um auf die heutigen Probleme und Proteste zurückzukommen, die auch mit der eigenen Geschichte eng verflochten sind: Seit dem 19. Jahrhundert gibt es in Deutschland das – gegen das englische Beispiel der Entwicklung des Kapitalismus gerichtete – Sonderprojekt, einen Wohlfahrtsstaat zu installieren. Dieser integrative Weg in die kapitalistische Moderne wurde von großen Teilen der Linken, Rechten und der Mitte bejaht. Die Kriegswirtschaft in beiden Weltkriegen hat dann die Tendenz des Staatseingriffs verstärkt. Die Nazis lebten übrigens durchaus auch vom Versprechen einer Wohlfahrtsstaatlichkeit, so wie dann – unter anderen Vorzeichen – auch die DDR. So ist die demokratische Herrschaft in Deutschland auf merkwürdige Weise mit der Utopie vom Wohlfahrtsstaat ebenso verbunden, wie es die deutschen Diktaturen waren. Die – allerdings immer brüchige – Legitimationsbasis der DDR bestand ja gerade darin, daß sie ein – allerdings autoritärer – Verteilungs- und Sicherungsstaat war. Als Konsensdiktatur versuchte sie vor allem in der Honecker-Zeit Zustimmung gegen Leistungen einzutauschen, die sie am Ende gar nicht mehr gewährleisten konnte. Die Bundesrepublik versuchte ihre Legitimität gegenüber der sozialen Herausforderung durch die DDR vor allem durch den Ausbau des Sozialstaates zu festigen. Daß die Wiedervereinigung mit ihren durch diese Konkurrenz hochgeschraubten Erwartungen auf beiden Seiten ausgerechnet in die Ära der großen Krise der Sozialstaatlichkeit in allen kapitalistischen Ländern fällt, ist nun wahrlich eine historisches Unglück. Es wird sich zeigen, ob ein freiheitlicher sozialer Konsens entsteht – an die Stelle nationaler Mythen also eine aufgeklärte Form der Gesellschaftlichkeit und der Kommunität treten wird. „Bürger-“ oder „Zivilgesellschaft“ – gibt es dafür denn erfolgreiche Beispiele? Rehberg: Diese Konzepte spielten eine große Rolle in der Opposition gegen die Sowjet-Hegemonie in Mittelosteuropa, besonders in Ungarn und der CSSR. Andere Traditionen bürgerlicher Selbstorganisation gibt es in Großbritannien und den USA – in diesen Ländern ist das weit ausgeprägter als in Deutschland. Die USA und Großbritannien haben allerdings auch einen starkem Nationalismus. Rehberg: Das stimmt, aber eine eigene, betont zivile Variante hat bei uns durchaus eine Chance, wie die Entwicklung der „alten“ Bundesrepublik ebenso gezeigt hat wie die Erfolge der Solidarnosc und der Bürgerbewegungen in puncto Zusammenbruch des Sowjetreiches. Der ehemalige Bundesarbeitsminister Norbert Blüm sagt voraus, die eigentlichen Anti-Hartz-Proteste kämen erst im Januar. Steht uns der eigentliche Proteststurm also erst noch bevor? Rehberg: Das ist durchaus möglich, aber man muß abwarten, ob die Arbeitslosen sich wirklich in dem Maße zu organisieren vermögen, wie das etwa in Frankreich – wenn auch nur kurzfristig – gelang. Arbeitslose sind – wie die Konsumenten – eine Masse ohne Massenhaftigkeit, also tatsächlich eine – wie der amerikanische Soziologe David Riesman das für die moderne Mittelschichtsgesellschaft formuliert hat – „einsame Masse“. Prof. Dr. Karl-Siegbert Rehberg ist Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Er lehrt seit 1992 Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie an der Technischen Universität Dresden und ist Gastprofessor an der Universität von Trient. Geboren wurde Rehberg 1943 in Aachen. weitere Interview-Partner der JF

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