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Marc Jongen, ESN Fraktion

Die Freiheit, eine Schlampe zu sein

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Märsche und Paraden erfreuen sich großer Beliebtheit, wie die Vielzahl der „Love“, „Gay“ und sonstigen „Parades“ bezeugt – jüngstes Beispiel postmoderner Aufmarschkultur ist der sogenannte „Slutwalk“, „Schlampenmarsch“, dessen Protagonistinnen (und Protagonisten) derzeit eine weltweite Bewegung aus dem Boden zu „stampfen“ – vielleicht sollte man besser sagen: „zu stöckeln“ – versuchen.

Auslöser war die Bemerkung eines Polizisten, der im Januar während einer juristischen Lehrveranstaltung der York University in Toronto sagte, Frauen sollten sich besser nicht „wie Schlampen anziehen“, um nicht Opfer von sexueller Belästigung oder Vergewaltigung zu werden. Die spontan hingesagte Äußerung fiel trotz der geringen Zahl von zehn Hörern, die angesichts solchen Chauvinismus „sprachlos“ gewesen seien, auf fruchtbaren Boden, wurde von der Presse ausgiebig skandalisiert und lieferte, in sicher beabsichtigter Analogie zum „Christopher Street Day“ der Schwulenbewegung, die Initialzündung zum erstem „Slutwalk“ am 3. April in Toronto, dem erstaunlich schnell weitere in vielen Metropolen der Welt folgten. Der erste deutsche „Slutwalk“ fand am 23. Juli in Passau statt, und am 13. August gab es einen konzertierten Schlampenmarsch in Berlin, Hamburg, München, Frankfurt, Stuttgart und dem Ruhrgebiet.

„Zeichen gegen sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungsmythen“

Wurden die ersten „Slutwalks“ in den Medien lediglich als Demonstrationen für das Recht auf freizügige Kleidung betrachtet, so setzte sich bald die „offizielle“ Interpretation der „Gender“-Bewegung durch, daß es – wie unter www.slutwalkberlin.de nachzulesen – neben dem „Zeichen gegen sexualisierte Gewalt und Vergewaltigungsmythen“ um das Einreißen „von Mauern in den Köpfen“ gehe; nicht zufällig wurde in Deutschland der 50. Jahrestag des Mauerbaus gewählt und einer Umwidmung unterzogen.

Während der Protest gegen sexuelle Gewalt und die Behauptung, Frauen provozierten diese selber, noch in der Tradition des klassischen Feminismus steht, ist die Forderung nach Akzeptanz „selbstbestimmter Kleidung“ – auch für den Grenzfall, daß jemand nackt herumlaufen möchte – weitaus radikaler, zielt sie doch letztlich auf die Abschaffung der angeblich nur durch gesellschaftliche Zuschreibungen, Normen, Kleiderordnungen, dichotomes und „essenzialistisches“ Denken konstituierten „Gender“-Differenzen ab. Deshalb richten sich die „Slutwalks“ ausdrücklich auch an Menschen mit homosexueller, Transgender- oder sonstiger Identität. Heterosexuelle Männer sind zwar als Vertreter einer sexuellen Orientierung neben anderen zugelassen, aber „selbstverständlich“ gilt die allgemeine Prämisse, daß jede Form von sexueller Identität gleichrangig und beliebig sei.

So sehr sich die „Schlampen“ auch bemühen – zu einer Widerstandsbewegung bedarf es mehr, als (vergleichbar der Neubesetzung von Begriffen wie „schwul“, „Tunte“ oder „Négritude“) einen negativen Begriff umzuwerten, bunten Klamauk zu machen, offene Medientüren einzurennen und „Gesicht“ – oder was auch immer – „zu zeigen“, nämlich echter Unterdrückung, die nicht schon dann gegeben ist, wenn nicht jeder alles darf.

Freiheit bedarf Grenzen

Sollte dieses Endziel totaler Freiheit je verwirklicht werden, hätte es wenig mit Selbstverwirklichung zu tun – da es dann gar kein Selbst mehr gäbe –, sondern viel mit der Leere denaturalisierter und verfügbar gemachter Homunculi, deren Nichtidentität von Politik, Konsumindustrie, Massenmedien und anderen Identitätsproduzenten nach deren Belieben mit Identitätssurrogaten verkleidet würde. Freiheit kann nur die Freiheit zu dem sein, was man seiner Natur nach werden kann, setzt folglich eine durchaus vielschichtige und sich entwickelnde Identität voraus und bedarf – nicht per se schädlicher – Grenzen.

Anstatt die „Slutwalks“ ausschließlich unter feministischen oder „genderistischen“ Perspektiven zu sehen, sollten sie auch vor einem anderen Hintergrund verstanden werden: Ebenfalls im April, fast gleichzeitig zum ersten „Schlampenmarsch“, fand in Paris eine Demonstration gegen das Burka-Verbot statt.

Letztlich steht sowohl hinter dem liberalistischen Kampf um Enthüllung als auch hinter dem Insistieren auf ein Recht, sich vollständig verhüllen zu dürfen, dasselbe Unbehagen an der Natur. Ein positives Verhältnis zur eigenen natürlich gegebenen, kulturell geformten und sich mit dem Alter wandelnden Identität würde sich dann zeigen, wenn es auch „Märsche“ von Frauen oder Männern gäbe, die uns demonstrieren, wie man sich dem Geschlecht, Alter und jeweiligen Anlaß entsprechend – mit anderen Worten: gut – anzieht.

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