Für besonders abgeklärte Fast-alles-Wisser liegt der Fall sonnenklar: Wenn die Politik sich nicht bewegt, könne sich nun einmal nichts bewegen hier bei uns in Deutschland. Doch ist dieses Strickmuster nicht zu schlicht, selbst wenn man, der eigenen Wahrnehmung folgend, der frisch formierten schwarz-gelben Berliner Regierungskoalition einen ziemlich holprigen Start bescheinigen muß – womöglich sogar eine seltsame Lähmung, die vor allem die wohlmeinenden und schon jetzt gründlich ernüchterten Wähler so ganz gewiß nicht erwartet haben?
Zwar leidet die Presse, ob gedruckt oder gesendet, auch in solchen Zeiten durchaus keinen Mangel an „Futter“, das mehr oder minder griffige Schlagzeilen verheißt. Dennoch verwundert es schon, wie wenig beherzt, ja, stümperhaft insbesondere die FDP sich (nicht) ans Werk macht. Gestern noch, Deutschland erinnert sich, schlug Guido Westerwelle, der Vormann, höchst schwungvoll und entschlossen klingende (Wahlkämpfer-)Töne an. Heute straft er frühere wohlwollende Fürsprache selbst Lügen und verbeißt sich geradezu wie vernagelt in seinen unerbittlich unliberalen Feldzug gegen die Präsidentin des Bundes der Vertriebenen und CDU-Bundestagsabgeordnete Erika Steinbach. Was ihn dabei reitet und wer diesseits oder jenseits unserer Landesgrenzen ihn antreibt, als wäre er von einer Tarantel gestochen, darüber mag jeder für sich begründbare Mutmaßungen anstellen.
Eines jedenfalls steht ist schon jetzt erkennbar: Westerwelle ist auf einem doppelt unguten Weg. Er überzieht sein Glaubwürdigkeitskontingent nicht nur mit den bis ins Persönliche reichenden Attacken auf Erika Steinbach. Schwerer noch wiegt das Einknicken ausgerechnet in Sachen radikale Steuerreform. Denn genau dieses Vorhaben hatten die Blaugelben und allen voran ihr Spitzenstimmenfänger Guido Westerwelle doch bekanntlich zu ihrer Domäne, zu ihrer Paradedisziplin erklärt – mit eingebauter Verwirklichungsgarantie sozusagen. Und das schwächliche Bild rundet sich obendrein noch auf anderem Terrain: Der Neuling im Außenministeramt wirkt zumindest bei seinen ersten Auftritten auffallend gehemmt und ungelenk bis hinein in die Körpersprache. Souveränität sieht anders aus. Die Zukunft muß erweisen, wieviel davon Westerwelle hinzugewinnen kann, für sich in Person und als „Diener Deutschlands, unseres Vaterlandes“, das der erste Mann der Liberalen in seinen schmissigen Wahlkampfreden wieder und wieder vollmundig bemühte.
Nicht geringe Sorgen müssen der FDP zudem auch die ersten Darbietungen ihres im Amt des Bundeswirtschaftsministers noch recht unerfahrenen „Neuen“ bereiten. Denn der „Dampfplauderer“ Rainer Brüderle erzürnte sogar viele Liberale und erst recht natürlich die vier CDU-Regierungschefs der Bundesländer mit Opel-Produktionsstandorten, als er, von kaum einer Sachkenntnis angekränkelt, wie Augen- und Ohrenzeugen hernach genervt berichteten, „schier endlos über die Marktwirtschaft an sich und im besonderen schwadronierte“, anstatt an den Fakten orientiert und dem Ernst der Lage angemessen zu sprechen und zu argumentieren.
Aber es ist ja nicht nur Rainer Brüderle allein. Allenthalben, wohin man auch blickt, wird immer flacher dahergeredet. Unablässig werden die sogenannten Sachzwänge bemüht. Das soll gewieften Politikschaffenden vermeintlich aus fast jeder Verlegenheit heraushelfen. Man braucht die drängenden Themen nicht mehr mit wirklichem Tiefgang zu diskutieren, gründlich abzuwägen, auszuloten – statt dessen flüchtet man in Arbeitskreise und Klausuren. Angenehmer Zusatzeffekt: Erklärungsnöte drohen seltener als zu früheren Zeiten.
Unverdrossen übt sich die heute herrschende Politik, vielfach sogar weltumgreifend, in Großraumaktionismus, Kleinmut und Kleinteiligkeit zugleich. Selbst die gelernte Naturwissenschaftlerin Angela Merkel, die es besser wissen könnte und müßte, ruft allen Ernstes dazu auf, die Erderwärmung auf höchstens zwei Grad zu begrenzen, obwohl seriöse Geoforscher wie Karin Lochte (Alfred-Wegener-Institut für Polar- und Meeresforschung), Volker Mosbrugger (Senckenberg-Forschungsinstitut) und Reinhard Hüttl (Deutsches Geoforschungszentrum, Potsdam) ein solches Unterfangen, fachlich schlüssig fundiert, schlicht als „baren Unsinn“ bezeichnen und die „pseudo-religiöse Fixierung auf das CO2“ als horrende Verschleuderung unermeßlichen Volksvermögens geißeln.
Apropos Volksvermögen, sprich: unser aller Steuergelder. Im März 2005, also noch vor der dem horrenden Finanzdesaster 2007/2008 – Bundeskanzlerin Angela Merkel und andere Politikgrößen saßen vorn in der ersten Zuhörerreihe –, hielt Bundespräsident Horst Köhler eine denkwürdige Mahnrede an die Nation. Zitat: „Der aktuelle Schuldenstand (1,4 Billionen Euro) und die Anwartschaften in den Sozialversicherungen (5,7 Billionen Euro) belaufen sich auf insgesamt 7,1 Billionen Euro. Das entspricht 330 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Machen wir uns wirklich klar, welche Erblast das für unsere Kinder und Enkelkinder bedeutet?“
Kritische Nachfrage Ende November 2009: Warum und von wem wohl wird diese wahrlich erschütternde Zahlenwahrheit von Politik und Medien von damals bis heute praktisch total tabuisiert?