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Seelische Heizung

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Der Fernseher ist nicht nur technisches Gerät. Er ist ein Lebensstil, der jeden Zuschauer in das große Netz der TV-Konsumenten integriert. Fernseh-Magazine, Unterhaltungsfilme, Seifenopern liefern nicht nur Unterhaltung und Information, sondern verbindlichen Rohstoff für künftige Gespräche mit Freunden und Kollegen.

Nicht das Kino, wo jeder einen anderen Film besucht. Nicht das Internet, wo man zwischen Millionen Netzseiten den Favoriten wählt und mit Unbekannten eine Interessens-Community bildet. Nein, das Fernsehprogramm zwischen 19 bis 22 Uhr – das ist der gemeinsame kommunikative Nenner. Ob Chef, Angestellter oder Praktikant: Bei „Germanys next Topmodel“ kreuzen sich die Interessen auf hormoneller Basis. Das bedeutet umgekehrt: Wenn jemand den Fernsehkonsum verweigert, die Kiste gar aus dem Fenster schmeißt, klinkt er sich aus dem weitreichenden Netzwerk aus – verweigert den sozialen Alleskleber, der Einzelinteressen übersteigt.

In seinem Buch „Orgasmus und Alltag“ (2000) hatte der Medienwissenschaftler Georg Seeßlen vom „Fernseher als elektronischem Lagerfeuer“ gesprochen. Tatsächlich läßt sich die abgedunkelte Wohnung als Höhle deuten, in der Mitte eine helle Flackerkiste, die das Zentrum der abendlichen Clanversammlung bildet: Fernsehkonsum als archaisches Verhalten – auch beim einsamen Großstadtnomaden, der in modernen Asphaltwüsten einen Unterschlupf (Einzimmerwohnung) bezieht und sich abends durchs elektrische Lagerfeuer zappt. Sie alle, der prähistorische Clan und der einsame Jäger, versammeln sich um Feuer oder Fernseher als Wärmespender – im ersten Falle auf physischer, im zweiten auf psychischer Ebene. Das TV-Gerät ist die seelische Heizung, die nicht nur im Augenblick des Konsums für Psychowärme sorgt, sondern auch am nächsten Tag – durch das gemeinsame Gesprächsthema. So betrachtet, werden die Geschichten, die der Clan sich einst am Lagerfeuer erzählte, bei Fernsehkonsumenten im Büro oder am Stammtisch nachgeholt. Vor solchem Hintergrund erscheint das Klischee vom isolationsfördernden TV mehr als fragwürdig.

Wer glaubt, diese These sei zu dick aufgetragen, sollte nicht vergessen: In US-Armutsvierteln sollen wiederholt Menschen vor laufendem Fernseher verhungert sein! Als sozial Ausgeschlossene war ihnen seelische Wärmung wichtiger als der physische Selbsterhalt. Lieber am Feuer sitzen, als draußen – in der (sozialen) Kälte – nach schlechtbezahlten Jobs zu suchen.

Die „Fern(seh)heizung“ ist für das Wärmeempfinden des Durchschnittsmenschen konzipiert. Man kann sogar von einer Wechselwirkung sprechen: Das Fernsehen ist einerseits Seismograph für den emotionalen Pegel einer Gesellschaft – und prägt ihn seinerseits. Der wiederum korrespondiert mit der Gesprächskultur: nicht zu heiß und nicht zu kalt, sondern lau. Die am Diskurs Beteiligten sollen nicht zu viel von ihrer Emotionalität preisgeben müssen. Bei Sendungen wie „Germanys next Topmodel“ ist das kein Problem, bei einem Extremfilm wie „Ai no corrida“ (Im Reich der Sinne, 1977) schon. Deshalb zeigt Arte ihn selten – und erst nach 22 Uhr.

Nicht Hirnlosigkeit, sondern die Seichtigkeit ist der todsichere Indikator für das Fernsehprogramm zur „besten Sendezeit“. Die politischen Magazine haben kein Feuer, die „Tatort“-Regisseure kaum Ahnung von Suspense, in den Talkshows herrschen Selbstinszenierung und ergebnislose Polemik, in den Melodramen wird nicht wirklich gelitten usw. Aus diesem Grund kann man das TV-Programm zwar verachten, sich aber trotzdem damit wohlfühlen – solange es kongruent zum eigenen Wärmepegel läuft und man sich im Kommunikationsnetz der Konsumenten geborgen glaubt. Oft genug werden die Programme nicht mal gesehen, sondern bloß gehört: weil man nebenbei noch das Zimmer aufgeräumt hat.

Das aber heißt in bezug auf Fernsehverweigerer: Nicht das intellektuelle Niveau sorgt primär für Probleme, sondern „nur“ die differente Seelentemperatur, die weder durchs TV-Programm noch durch Gespräche am folgenden Tag erreicht bzw. befriedigt wird. Natürlich gibt es arrogante Bildungsspießer, denen das TV-Programm grundsätzlich zu „primitiv“ ist. Schnüffelt man aber in deren Privatleben, findet man garantiert andere „Primitivitäten“ – und zwar reichlich.

Eine Folge der Fernsehverweigerung: Man muß nach alternativen Netzwerken und Energiequellen suchen. Letztere liegen nicht ausschließlich in den Printmedien, also Zeitungen, Zeitschriften und Büchern. Es gibt zahlreiche Glotzenhasser, die sich in guten Videotheken Filme ihrer Wahl aussuchen. Aber es muß meist gezielt dieser eine Film sein, genau jetzt, zu diesem Zeitpunkt, will man ihn – und keinen anderen! Ähnlich wie beim Kinobesuch.

Deshalb geht damit die Kreation eigener Netzwerke zwingend einher. Nicht nur, weil dem Anti-Fernsehmenschen sonst das Thema ausginge – nein, weil die normalen Netzwerke ihm ebenso unangemessen sind wie das TV-Programm. Zwei Beispiele: Der Philosoph Martin Heidegger, dem das „uneigentliche Gerede“ höchst suspekt war, der über die Langeweile „geselliger Abende“ philosophierte und die Runde schweigender Bauern vorzog – natürlich hatte er kein TV-Gerät in seiner Hütte. Aber wenn ein Fußball-Pokalspiel angesagt war und Franz Beckenbauer mitspielte, dem er „Unverwundbarkeit“ attestierte – dann gab es für den Denker kein Halten mehr. Dann wurde er zum Gastzuschauer in einer Freiburger Familie, goß sich während des Spiels vor Aufregung den Tee über das Knie. Man merkt, Heideggers Haltung gegen das Fernsehen war nicht von geistigem Hochmut geprägt, aber nur das Fußballprogramm „kickte“ ihn.

Der andere Fall: Eine Schauspielerin, deren Name hier ungenannt bleibt, wird nur durch extremste Gewaltfilme zur beruflichen Höchstleistung inspiriert. Am liebsten sind ihr Kannibalenfilme à la „Man-Eater“, „Lebendig gefressen“ usw. Die bestellt sie auf DVD, die schaut sie sich auf dem Laptop an. Einen Fernseher hat sie nicht. Dabei ist sie ein sehr lieber Mensch und spielt überwiegend keine Gruselrollen. Aber nur dieser Härte- oder Hitzegrad stimuliert ihren Intuitionspegel. Der Bedarf nach Austausch darüber hält sich bei ihr in Grenzen.

Viele Fernsehverweiger können im öffentlichen Diskurs nur mitspielen um den Preis der Maskierung. Dem aber ist keine Dauer beschieden. Somit bilden sie – ohne das bewußt zu wollen – eine Subkultur. Und deshalb ist es selten, daß einer von ihnen „Karriere“ macht – schon gar nicht in Berufen, die „soziale Kompetenz“ verlangen.

Foto:  Am elektronischen Lagerfeuer: Fernsehverweigerer machen selten Karriere – schon gar nicht in Berufen, die „soziale Kompetenz“ verlangen

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