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Triebbefreite und Tränendeuter

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Unwort, Umfrage, Alternativ

Dieser Blog leitet nicht mehr und nicht weniger als eine grundstürzende Wende ein, wird doch an dieser Stelle von nun an in lockerer Folge erstmals und ausdrücklich auf die Errungenschaften einer Gruppe von MitbürgerInnen eingegangen, die als 68er bekannt sind und sich häufig boshafter Kritik von (rechts-)konservativer Seite ausgesetzt sehen. Diese unschöne, notorisch gewordene Gewohnheit soll hier nicht nur kritisch hinterfragt, sondern in ihrer Verkrustetheit aufgebrochen werden.

In einem ersten Teil geht es um die emanzipatorischen Potentiale, die die „68er“ beim deutschen Schlager freisetzen konnten. Auch er stand in den 50er und 60er Jahren nämlich ganz im Zeichen von Triebunterdrückung (Gerhard Wendland:

„Schläfst du schon?“), kryptofaschistischer Ideologie (Freddy Quinn: „Hundert Mann und ein Befehl“), Hinterwäldlertum (Paul Kuhn: „Es gibt kein Bier auf Hawai“), einem patriarchalischen Familienbegriff (Heintje: „Mama, du mußt doch nicht um deinen Jungen weinen“) und überhaupt von Miesepetrigkeit (Golgowski-Quartett: „Am 30. Mai ist der Weltuntergang“). 

Abrechnung mit autoritätshörigen Spießern

Mit den 68ern gingen antihierarchische, antiautoritäre und nonkonforme Gehalte in den deutschen Schlager ein, der sich in der Folge mehr und mehr dem Menschen und seinen realen Problemen öffnete und eine qualifizierte Beziehungspräferenz entwickelte. Die kritische Potenz des deutschen Schlagers hat dank der 68er einen unübersehbaren Aufschwung genommen.

Man denke nur an das „Ehrenwerte Haus“ des Udo Jürgens, der kritisch die latente Menschenfeindlichkeit autoritätshöriger Spießer aufarbeitete – und an seinen „Griechischen Wein“, mit dem er um Verständnis für die Lage an den Rand gedrängter Gastarbeiter in Deutschland warb. Auch leise feministische Töne waren bald zu hören, so in dem zynisch-ironischen Schlager von Johanna von Koczian: „Das bißchen Haushalt ist doch kein Problem, sagt mein Mann …“.

Vor allem aber wurden „südländische Eigenschaften“, wie Ausgelassenheit, Tanzwut oder Lebenslust, als Gegenmodell zu bornierter Teutonensturheit fruchtbar gemacht: Exemplarisch hierfür stehen Rex Gildos „Fiesta Mexicana“ oder Imca Marinas „Die Sonne scheint bei Tag und Nacht, Eviva Espana“. Tony Marschall durchstieß starre deutsche Disziplinvorstellungen mit seiner Aufforderung „Heute hau’n wir auf die Pauke, ja wir machen durch bis morgen früh“.

Und Peter Maffay, in die Rolle eines Oswald Kolles des Schlagers schlüpfend, widmete dem Triebleben seinen „Chartbreaker“ „Und es war Sommer“ – Sexualtheoretiker und 68er-Idol Wilhelm Reich hätte an diesem bekenntnisfreudigen Rumänienimport seine helle Freude gehabt.

Nicht zuletzt wurde endlich auch lange unterdrückten Gefühlen umgehemmt freien Lauf gelassen: Michael Holm diagnostizierte „Tränen lügen nicht“ und Chris Roberts bekannte entwaffnend offen: „Ich bin verliebt in die Liebe“. Kindliche Ausgelassenheit besang wiederum Michael Holm in seinem Schlager: „Barfuß im Regen, und wir singen und singen und singen.“ 

Umgründung des Schlagers dank 68er-Kulturrevolution

Auch der Trend hin zu Natur und Ökologie fand seinen Niederschlag, so zum Beispiel bei Jürgen Drews, der sein ökologisch-dynamisches „Bett im Kornfeld“ nachhaltig zur Nachahmung empfahl. Howard Carpendale hingegen protestierte in seinem Schlager „Du fängst den Wind niemals ein“ schon früh gegen die industrielle Vernutzung der Windkraft.

Er erinnerte überdies an die Vergeblichkeit jeder menschlichen Bemühung: „Deine Spuren im Sand, die ich gestern noch fand.“ Antikapitalistisch kam Wolfgang daher, der lauthals dazu aufforderte, besser beim „Trödler Abraham“ als beim entseelten Großkapitalisten zu kaufen.

Zu Recht kann deshalb von einer Umgründung des deutschen Schlagers im Gefolge von 1968 gesprochen werden. Die in diesem Jahr ausgelöste Kulturrevolution verhalf der Emanzipation des Individuums auch hier zum Durchbruch. Die diskursiven Rahmenbedingungen, unter denen deutscher Schlager hier und jetzt stattfindet, reichen von anpackender Seelenarbeit im XXXL-Schunkeltempo (Wildecker Herzbuben: „Herzilein, mußt nicht traurig sein“) bis hin zu den großen Existenzfragen à la Christian Anders? „Es fährt ein Zug nach Nirgendwo“ oder Nino de Angelos? „Jenseits von Eden“.

Keine Frage: Der deutsche Schlager, früher bestenfalls in Seligkeitsidiotentum befangen, ist heute näher bei den Menschen und ihren Problemen, Sehnsüchten, Träumen und Nöten, die er kritisch ventiliert und auf ihre funktionale kommunikative Relevanz hin auslegt – ein klarer Verdienst unserer 68er.

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