Jacques Becker drehte nur vierzehn Filme, doch wenn man sich dieses Lebenswerk genauer ansieht, entdeckt man wahre Kleinode darunter: „Edouard und Caroline“, den schönsten aller französischen Liebesfilme; das Meisterwerk „Goldhelm“; „Wenn es Nacht wird in Paris“, den besten aller französischen Kriminalfilme; und „Das Loch“, den aufregendsten Film über einen Gefängnisausbruch. Am 15. September 1906 in Paris geboren, begann Becker als junger Regieassistent seine Karriere bei Jean Renoir. Eine besseren Lehrmeister als den Regisseur von „Nachtasyl“, „Die große Illusion“ und „Bestie Mensch“ hätte er nicht finden können, gleichwohl gehörte seine ganze Verehrung Erich von Stroheim und Charles Chaplin. Renoir machte ihn auch mit jenem Schauspieler bekannt, dem es gelang, allein aus einem Hochziehen der Augenbraue ein Erlebnis zu machen und dessen Blick auf der Leinwand ein Phänomen war: Jean Gabin. Renoir hatte Gabin Ende der dreißiger Jahre zum Star des französischen Kinos gemacht, Becker machte ihn mit einem einzigen Film zum Mythos. Was an Beckers Gesamtwerk am meisten auffällt, ist seine Vielfältigkeit. Auf ein bestimmtes Genre ließ er sich nie festlegen, doch interessierte ihn in den ersten Nachkriegsjahren, wie die junge Generation sich mit den ersten wirklichen Problemen sentimentaler, sozialer und intellektueller Art konfrontiert sah. „Zwei in Paris“, eine fein abgewogene Ehegeschichte, schildert das Alltagsleben eines jungverheirateten Paares. Man streitet sich über Banalitäten, versöhnt sich wieder und ist im Grunde zufrieden mit dem bescheidenen Auskommen als Verkäuferin und Setzer. Erst ein verlegtes Lotterielos sorgt für einige Turbulenzen. Becker liefert hier eine durchweg überzeugende Milieuschilderung des Paris der unmittelbaren Nachkriegszeit, die Charaktere sind liebevoll und detailgenau gezeichnet, die Dialoge geschliffen und die Kameraführung fast dokumentarisch. „Edouard und Caroline“ schließt fast nahtlos hieran an, mit Daniel Gelin und Anne Vernon setzte Becker zudem zwei exzellente Schauspieler ein, die sich in den Rollen des begabten, aber erfolglosen Pianisten und seiner aus reichem, exzentrischem Elternhaus stammenden Ehefrau brillante Rededuelle liefern, deren ständige Streitereien und Zwistigkeiten letztlich aber doch die Erkenntnis bringen, daß sie beide zusammengehören. Becker gelang hier mehr als eine der üblichen intimen Komödien, nämlich ein wunderschöner, warmherziger Liebesfilm. Geborgen in der Unterwelt Noch im gleichen Jahr drehte Becker „Goldhelm“. Es ist das Paris des späten 19. Jahrhunderts, die „belle époque“. Ein einfacher Schreiner (Serge Reggiani) verliebt sich auf einem Tanzfest in ein leichtes Mädchen, eine Ganovenbraut, die wegen ihrer schönen goldblonden Haare im Milieu nur „Goldhelm“ genannt wird. Zwar erwidert Marie (Simone Signoret) zunächst seine Zuneigung, doch letztlich wird sie ihm doch zum Verhängnis. Es kommt zu Mord und Verrat, der Schreiner endet auf der Guillotine. Wie sich der Film immer rascher vom heiter-sentimentalen Gaunerstück zur blutigen Tragödie bewegt, die Zeichnung des zwielichtigen Milieus, die zutiefst humane Betrachtung der Liebenden, das ist faszinierend dramatisiert und von einer stilistischen Klarheit, die ihresgleichen sucht. Mit „Goldhelm“ bewies Becker seine Meisterschaft der Charakterdarstellung und eines poetischen Realismus. John Hustons „Asphalt-Dschungel“, der 1951 in den Pariser Kinos lief, war die Inspiration für Beckers „Wenn es Nacht wird in Paris“, der am Anfang der französischen Unterwelts- und Gangsterfilme steht und bis heute in diesem Genre unübertroffen ist. Becker war von Hustons Film begeistert, setzte aber trotz einiger frappierender Ähnlichkeiten letztlich doch ganz andere Akzente. In „Wenn es Nacht wird in Paris“ ist die Unterwelt eher eine Geborgenheit verheißende denn verweigernde Welt, fast ein Idyll, und die Helden stehen eher vor dem Problem, sich aus diesem Idyll von jüngeren und skrupelloseren Gangstern nicht vertreiben zu lassen. Max (Jean Gabin) und Riton (René Dary) haben bei einem Überfall auf den Flughafen Orly Goldbarren im Wert von 50 Millionen Franc erbeutet und wollen sich nach diesem letzten großen Coup endlich zur Ruhe setzen. Dummerweise hat sich Riton aber bei seiner Freundin, der Tänzerin Josy (Jeanne Moreau), verplappert. Durch sie erfährt Josys neuer Liebhaber Angelo (Lino Borrini, der später als Lino Ventura zum Weltstar wurde) von dem Coup. Er läßt Riton entführen und fordert von Max das Gold gegen Ritons Leben. Max, den eine über zwanzigjährige Freundschaft mit Riton verbindet, beschließt den Freund zu befreien. Bei der Übergabe entspinnt sich ein gnadenloser Kampf. Am Ende ist das geraubte Gold verloren und Riton stirbt an seinen Schußverletzungen, während Max mit einer Freundin bei Madame Bouche in ihrem Stammlokal gerade zu Mittag ißt. Beckers „Wenn es Nacht wird in Paris“ ist ein klassisches Gangsterdrama mit ausgefeilten Charakteren, vor allem aber eine lakonisch erzählte Geschichte über Loyalität, Freundschaft und Treue – Max nennt Riton bisweilen fast zärtlich „mein kleines Igelköpfchen“ -, zugleich aber auch ein Abgesang auf hinfällig gewordene Begriffe von Ehre. Stanley Kubrick übersetzte den Stoff ins Amerikanische Die hermetische Welt der Gangster und ihre Träume vom bürgerlichen Glück verdichten sich in Beckers Film zu einem packenden menschlichen Drama, routiniert entwickelt und hervorragend gespielt. Gabin wird in diesem Film zum Denkmal seiner selbst. Wie in Stein gemeißelt wirken seine Gesichtszüge, als er bei Madame Bouche am Telefon vom Tod des Freundes erfährt. Wenn er dann zu seinem Tisch zurückgeht, wird seine Mimik zum subtilen Spiegel der inneren und äußeren Bewegtheiten. Sogar die aus der Musikbox erklingende Melodie erhält symbolhaften Charakter. Zwei Jahre später hat Stanley Kubrick die bedeutendsten Motive von Beckers Film für „The Killing“ ins Amerikanische übersetzt. Doch während Becker dem Mut der handelnden Männer Respekt zollt, distanziert sich Kubrick vom Geschehen und unterzieht das Genre einer kritischen Revision. Jules Dassin gelang schließlich mit „Rififi“ eine Synthese, indem er das für den französischen Unterweltsfilm typische Motiv der Gangsterfreundschaft mit dem eher technologisch-kalten Erzählstil der amerikanischen „Big Caper“-Thriller verband. Am 21. Februar 1960, kurz nach Beendigung der Dreharbeiten zu seinem Gefängnisdrama „Das Loch“, starb Jacques Becker im Alter von nur 53 Jahren in Paris. Fotos: Jacques Becker: Meisterhaft, Jean Gabin (l.) und Lino Ventura in „Wenn es Nacht wird in Paris“: Ein Gesicht wie in Stein gemeißelt