Straffreiheit von Abtreibungen, AfD-Verbot, Corona-Impfpflicht oder Kopftücher im öffentlichen Dienst: Die Liste der kontroversen Standpunkte, die Frauke Brosius-Gersdorf vorerst den Sprung an das Bundesverfassungsgericht gekostet haben, ist lang. Doch nun kommt eine weitere Position der Potsdamer Juraprofessorin hinzu, die für Aufmerksamkeit sorgen dürfte: Brosius-Gersdorf hält Polygamie für vereinbar mit dem Grundgesetz. Zuerst berichtete die Tagespost darüber.
In dem nach ihrem Doktorvater Horst-Dreier benannten Grundgesetz-Kommentar, den Brosius-Gersdorf inzwischen herausgibt (4. Auflage, 2023), nimmt die 54jährige Stellung zu Artikel 6 des Grundgesetzes, dem besonderen Schutz von Ehe und Familie. Brosius-Gersdorf definiert die Ehe als „auf Dauer angelegte Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft von mindestens zwei Personen“.
Begrenzung auf zwei Personen „nicht geboten“
Konkreter führt sie aus: „Eine Begrenzung des Verfassungsbegriffs der Ehe auf zwei Personen (Einehe) ist durch den Normenzweck des Artikels 6 Absatz 1 Grundgesetz nicht geboten. Die Funktion der Ehe als Beistands- und Verantwortungsgemeinschaft kann grundsätzlich nicht nur von monogamen, sondern auch von polygamen Lebensgemeinschaften (Vielehe) erfüllt werden.“
Allerdings könnten Vielehen „auf Bedenken des Gleichberechtigungsgebots (Artikel 3 Absatz 2 Grundgesetz) stoßen, wenn mit ihnen typischerweise die Unterdrückung eines Ehepartners einhergeht“, schreibt die Juristin. „(Nur) in diesem Fall wäre die Institutsgarantie des Artikels 6 Absatz 1 Grundgesetz auf die Einehe begrenzt und stünde einer gesetzlichen Zulassung von Vielehen entgegen.“
Zusätzlich zur Polygamie äußert sich die Kandidatin für das Verfassungsgericht zur Frage, ob die Partner in einer Ehe volljährig sein müssen. Hier argumentiert sie: „Eine Minderjährigenehe ist nur im Einzelfall unvereinbar mit Artikel 6 Absatz 1 Grundgesetz, wenn mit ihr die Beistands- und Verantwortungsfunktion der Ehe nicht erfüllt werden kann (zum Beispiel bei sehr jungem Alter der Ehepartner) oder sie mit Unfreiwilligkeit oder Ungleichberechtigung verbunden ist (zum Beispiel bei strukturellem Ungleichgewicht der Ehepartner).“
Staatsrechtler Vosgerau: „Geht um islamische Vielehe“
Kritik an Brosius-Gersdorfs Position zur Polygamie kommt etwa vom Staatsrechtler Ulrich Vosgerau, der auch als Kolumnist und Autor für die JUNGE FREIHEIT tätig ist. Er betont zwar: „Wenn Brosius-Gersdorf Polygamie für vereinbar mit dem grundgesetzlichen Schutz von Ehe und Familie hält, vertritt sie damit nicht denknotwendig auch die Position, daß der deutsche Gesetzgeber morgen die Vielehe einführen dürfte.“ Es gehe ihr – auch wenn dies nicht klar zum Ausdruck gebracht werde – „vermutlich eher darum festzustellen, daß der deutsche Gesetzgeber Vielehen, die im Ausland, also vor allem in islamischen Ländern, geschlossen worden sind, als Ehe anerkennen muß.“
Vosgerau weiter: „Der Artikel 6 des Grundgesetzes läßt sich zwar durchaus so auslegen, daß darunter nicht nur Ehen fallen, die nach deutschem Recht geschlossen worden sind, sondern auch Vielehen, wie sie in islamischen Rechtsordnungen verbreitet sind.“ Nach dieser Auslegung müssen Vielehen, die im Ausland geschlossen worden sind, auch in Deutschland als Ehe anerkannt werden, erläutert er. Auch im internationalen Privatrecht gelte der Grundsatz, im Ausland gültig geschlossene Ehen als solche anzuerkennen und nicht das deutsche Familienrecht nachträglich auf ausländische Rechtssachverhalte anzuwenden.
Einwanderer erhalten „Polygamie-Privileg“
Diese auf den ersten Blick stimmige Sichtweise gerate dann allerdings in einen Konflikt mit dem Gleichheitspostulat des Grundgesetzes. „Ausländer beziehungsweise Muslime hätten dadurch mehr Rechte als Deutsche und Europäer“, macht der Staatsrechtler deutlich. „Denn das Grundgesetz stellt sich die Ehe selbstverständlich als Einehe vor, wie sie im christlichen-abendländischen Kulturkreis immer üblich war, auch wenn das aus dem Wortlaut von Artikel 6 nicht explizit hervorgeht.“
Deshalb dürfe der deutsche Gesetzgeber die Vielehe selbst nicht einführen – „er ist aber offenbar gehalten, fremde Vielehen grundsätzlich anzuerkennen oder jedenfalls nicht grundrechtlich schutzlos zu stellen“, so Vosgerau. „Ähnlich wie Einwanderer durch die Einführung der doppelten Staatsbürgerschaft, zumal wenn diese auch noch der Regelfall sein soll, gegenüber den Einheimischen letztlich rechtlich privilegiert werden, erhalten sie durch die Öffnung des grundgesetzlichen Ehebegriffs auch für islamische Vorstellungen eine Art ‘Polygamie-Privileg’.“
Vosgerau moniert, daß Brosius-Gersdorf dieses Problem in ihrem Kommentar nicht herausarbeite, sondern nur in zwei Sätzen anreiße, und sich apodiktisch für eine sehr einseitige Auslegung von Artikel 6 entscheide. „Das Problem herauszuarbeiten würde bedeuten, die gesellschaftlichen Konsequenzen zentraler linker Transformationsprozesse wie Masseneinwanderung und Multikulturalismus zu beleuchten“, führt er aus. „Aber Frau Brosius-Gersdorf legt das Grundgesetz wie schon bei anderen Themen auch hier so aus, als sei Masseneinwanderung aus fremden Kulturkreisen und die damit verbundene bevölkerungsmäßige Umgestaltung Deutschlands eine dem Verfassungsrecht vorgegebene und vorgehende Selbstverständlichkeit und nicht das längst gescheiterte Projekt weltfremder Eliten.“
In seiner JF-Rechts-Kolumne hat sich Ulrich Vosgerau ausführlich mit Brosius-Gersdorfs Position zur Polygamie auseinandergesetzt: Brosius-Gersdorf und die Vielehe ‒ wie grundgesetzkonform ist das?