Herr Professor Gersdorf, Sie haben in mehreren Medien, etwa im MDR-Fernsehen, kritisiert, daß der AfD vom Verfassungsschutz der „ethnisch-kulturelle Volksbegriff“ als Nachweis einer Verfassungswidrigkeit vorgeworfen wird. Warum?
Hubertus Gersdorf: Weil nicht zu erkennen ist, inwiefern ein solcher gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung verstößt.
Inwiefern?
Gersdorf: Da unser Grundgesetz gar keinen eigenen Volksbegriff hat, gegen den verstoßen werden könnte.
Bitte? Wieso wird dann in der Debatte immer wieder der „Volksbegriff des Grundgesetzes“ ins Feld geführt?
Gersdorf: Gute Frage. Tatsache ist jedoch, daß das Grundgesetz das deutsche Volk nicht definiert, sondern, daß es dem Gesetzgeber die Entscheidung darüber überläßt, wer Deutscher wird.
Aber im Artikel 116 heißt es doch: „Deutscher im Sinne dieses Grundgesetzes ist … wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.“
Gersdorf: Eben! Wie Sie sehen, wird da nicht im einzelnen definiert, was Deutschsein ist, sondern auf die Staatsangehörigkeit verwiesen. Und das Staatsangehörigkeitsrecht gestaltet der Gesetzgeber – womit, wie gesagt, das Grundgesetz ihm die Entscheidung darüber überträgt, wer dem deutschen Volk angehört.
Und jetzt kommt das Entscheidende: dabei hat er einen großen Gestaltungsspielraum. Er kann sich zwischen mehreren Prinzipien entscheiden – auch für das tradierte Abstammungsprinzip, wonach ein Kind Deutscher wird, wenn Mutter und/oder Vater die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen/besitzt.
Gersdorf: „Natürlich können wir zum Abstammungsrecht zurückkehren“
Also das sogenannte „Ius sanguinis“, zu deutsch „Blutsrecht“, wie es die AfD im Grunde vertritt?
Gersdorf: Ja, und wie es in der Bundesrepublik bereits von 1949 bis 1999 gegolten hat. Also ein Staatsbürgerschaftsrecht, das darauf zielt, die ethnische, sprich soziokulturelle Homogenität eines Volkes zu wahren. Dagegen führt das 1999 verabschiedete, heutige Staatsangehörigkeitsrecht zur Veränderung dieser homogenen Einheit. Aber ebenso wie der Gesetzgeber sich 1999 für dieses entscheiden konnte, kann er in Zukunft auch wieder das vorherige Recht einführen, also zum Abstammungsprinzip zurückkehren.
Sprich, propagiert eine Partei einen ethnisch-kulturellen Volksbegriff, ist das nicht nur nicht verfassungswidrig, sondern sogar ihr Recht im Sinne des vom Grundgesetz überlassenen Spielraums. Wenn das so ist, wieso wird diese Debatte dann überhaupt geführt?
Gersdorf: Auch das ist eine gute Frage. Denn wenn der Verfassungsschutz meint, ein ethnisch-kultureller Volksbegriff sei verfassungswidrig, dann muß man ihm die Frage stellen, ob er folglich der Auffassung ist, daß auch das Staatsangehörigkeitsrecht von 1949 bis 1999 verfassungswidrig war. Und zudem müßte diese Auffassung des Verfassungsschutzes erst noch höchstrichterlich bestätigt werden, bevor man auf ihrer Basis eine Partei verbieten kann.
„In dieser Reihenfolge kann man eine Partei nicht verbieten“
Ist denn möglich, daß sich diese Auffassung vor Gericht durchsetzt?
Gersdorf: Nun, in der Juristerei gibt es ständig Entwicklungen, die Dinge ändern sich. Vielleicht sieht man das irgendwann so. Ich glaube allerdings nicht, daß das möglich ist, denn Folge wäre, wie gesagt, daß unsere staatliche Praxis über fünfzig Jahre verfassungswidrig gewesen wäre.
Aber nehmen wir dennoch einmal an, es würde so kommen. Dann müßte dieser neue Maßstab zunächst vom Bundesverfassungsgericht festgestellt werden, damit alle Parteien, auch die AfD, die Gelegenheit haben, sich darauf einzustellen. Erst wenn die Partei dann immer noch dagegenhandelt, könnte sie verboten werden – in dieser Reihenfolge.
Wenn die AfD-Einstufung auf einer gänzlich neuen und ungesicherten Argumentation beruht, müßte es dann nicht viel mehr Einspruch seitens Ihres Fachs geben?
Gersdorf: Tja, es ist schon verwunderlich, daß nicht mehr Staatsrechtler dazu Stellung nehmen.
Was sind die Gründe?
Gersdorf: Zum einen vermute ich, daß verständlicherweise die wenigsten die elfhundert Seiten des Verfassungsschutzgutachtens gelesen haben. Zum anderen bringt es nicht gerade Vorteile, sich für die faire Behandlung einer Partei einzusetzen, die im politischen Diskurs als neofaschistisch dargestellt wird. Aber ich spekuliere, was ich eigentlich nicht will.
Allerdings rufen Sie Ihre Fachkollegen nun zu einer großen gesellschaftlichen Debatte auf, richtig?
Gersdorf: Ja, denn da der Volksbegriff offenbar das zentrale Argument des Verfassungsschutzes ist, erwarte ich in der Tat vor allem auch eine rechtswissenschaftliche Diskussion darüber, von welchem Volksbegriff unser Grundgesetz ausgeht und ob also das Ganze so verfassungsrechtlich Bestand hat. Es ist unsere gesellschaftliche Aufgabe als Rechtswissenschaft, zu diesem zentralen Punkt Stellung zu nehmen!
„Der Begriff ‘Paßdeutscher’ allein ist noch kein Verfassungsverstoß“
Einzelnen AfD-Politikern wird die Verwendung des Begriffs „Paßdeutscher“ vorgeworfen. Warum? Denn wo ist der Unterschied zwischen diesem Begriff und der Wendung „Deutscher im Sinne des Grundgesetzes“?
Gersdorf: „Paßdeutscher“ ist problematisch, weil das Grundgesetz nicht erlaubt, daß zwischen Staatsangehörigen differenziert wird – da das gegen das im Grundgesetz verankerte Demokratie- und Menschenwürdeprinzip verstößt.
Inwiefern verletzt es Menschenwürde- und Demokratieprinzip, zwischen Paß- und Abstammungsdeutschen zu differenzieren?
Gersdorf: Beide verbieten, Staatsbürger aufgrund ihrer Abstammung zu diskriminieren.
Wenn Differenzieren gleich Diskriminieren ist, wie ist dann die gesetzliche Anerkennung etwa der Sorben als nationaler Minderheit möglich, ebenso wie das Recht des „Südschleswigschen Wählerverbands“, der Partei der dänischen Minderheit, bei Landtagswahlen von der Fünf-Prozent-Hürde suspendiert zu sein? Wären Sorben und Dänen keine „Paßdeutschen“, sprich „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“, sondern Deutsche der Abstammung nach, dann wären sie eben keine Sorben und Dänen – und könnten auch keine Privilegien als nationale Minderheiten genießen.
Gersdorf: Das sind Ausnahme-Konstellationen für bestimmte Minderheiten etwa im Freistaat Sachsen oder in Schleswig-Holstein. Man kann darüber streiten, ob hier so eine Differenzierung trägt. Im Kern aber gilt, daß alle Deutschen gleich zu behandeln sind und es keine Unterscheidung zwischen den Staatsbürgern geben darf.
Auch das Grundgesetz selbst unterscheidet mehrfach zwischen einer paßdeutschen und abstammungsdeutschen Identität, etwa wenn es in Artikel 116 sagt, „Deutscher im Sinne des Grundgesetzes ist … wer die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt … oder deutscher Volkszugehörigkeit (ist)“. Oder wenn es in der Präambel von einem „deutschen Volk“ spricht, das sich „dieses Grundgesetz gegeben hat“, das also schon vor dem Grundgesetz und dem von ihm begründeten Staat existiert haben muß. Kurz, zu diskriminieren ist in der Tat verboten, aber zu differenzieren, ist das nicht etwas anderes, nämlich gängige Praxis vom Grundgesetz bis hin zu heutigen Bundes- und Landesgesetzen?
Gersdorf: Richtig ist, daß der Begriff „Paßdeutscher“ allein noch kein Verfassungsverstoß ist, weil er interpretationsfähig ist, und wenn er etwa in Zusammenhang mit der Forderung gebraucht wird, zum alten Staatsbürgerschaftsrecht vor 1999 zurückzukehren. Anders sieht es aber aus, wenn er benutzt wird, um gewissen Staatsbürgern ausländischer Herkunft die gleichen Rechte abzusprechen.
„Wird mit dieser Debatte nur ein Popanz aufgebaut?“
Angesichts all Ihrer Einwände: Ist die Debatte um die AfD sachlich begründet oder dient sie dazu, die Partei unter Verdacht zu stellen?
Gersdorf: Ich kann eigentlich nicht erkennen, daß sie sachlich begründet ist. Aber dennoch müssen wir die Diskussion führen, damit deutlich wird, was der Maßstab unserer Verfassung ist: nämlich, daß wir Parteien nicht auf Grundlage politischer Ansichten verbieten können, sondern nur, wenn sie gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung verstoßen.
Es ist also zum Beispiel irrig, wenn manche glauben, Multikulturalismus sei von Verfassungswegen geboten und jede Benachteiligung von Ausländern sei verfassungsrechtlich unzulässig. Das Grundgesetz beruht auf einer Differenzierung zwischen Deutschen und Nichtdeutschen.
Nur Deutsche dürfen wählen und gewählt werden; und nur Deutschen steht der Schutz bestimmter Grundrechte zu wie die die Grundrechte der Berufsfreiheit und der Versammlungsfreiheit.
Was heißt das: Den Medien, Parteien und dem Verfassungsschutz ist die Situation nicht klar? Oder wissen sie ganz genau, daß die Rechtslage ihre Vorwürfe nicht hergibt, aber sie erheben sie dennoch?
Gersdorf: Als Rechtswissenschaftler sollte man, wie gesagt, nicht spekulieren. Aber in Erwägung ziehen kann man natürlich, daß die durch diese Debatte verstärkte Polarisierung auch der Mobilisierung der eigenen Wählerschaft dienen könnte. Es ist also durchaus möglich, daß hier ein Popanz aufgebaut wird.
Parteien und private Medien sind Tendenzbetriebe und können daher täuschen, verfälschen und auch lügen wie sie wollen, solange es nicht justitiabel ist. Aber gilt das auch für den Verfassungsschutz?
Gersdorf: Die Verfassungsschutzämter sind dem jeweiligen Innenministerium unterstellt und damit weisungsgebunden – und das muß nach dem Demokratieprinzip unseres Grundgesetzes auch so sein, da es keinen Staat im Staat geben darf! Damit ist aber auch klar, daß sie keine unabhängigen Behörden sind. Das gleiche gilt übrigens für die Polizei und alle anderen Sicherheitsbehörden.
„Der Verfassungsschutz entscheidet nicht, wer verfassungswidrig ist“
Warum wird in der Debatte dann von Parteien und Medien fast durchweg der Eindruck erweckt, es handele sich beim AfD-Verfassungsschutzgutachten um das Dossier einer rein fachlichen, objektiven Instanz?
Gersdorf: Eine berechtigte Frage. Immerhin hat der Staat ja nicht parteipolitische Interessen, sondern die des Gemeinwohls zu verfolgen. Aber gerade weil die Gefahr besteht, daß das in der Praxis nicht klar getrennt wird, hat das Grundgesetz die Entscheidung darüber, ob eine Partei verfassungswidrig ist, nicht in die Hände der Innenbehörden, sondern des Bundesverfassungsgerichts gelegt.
Zwar hat die Exekutive die Möglichkeiten, Material gegen eine Partei zusammenzutragen und einen Verbotsantrag in Karlsruhe zu stellen. Die Entscheidung darüber, ob sie sich damit im Recht befinden, ist das aber noch nicht.
Trotz des Gutachtens wird wohl auch diesmal kein Verbotsverfahren eingeleitet, womit die Anschuldigungen ad infinitum im Raum stehen bleiben. Wie verträgt sich das eigentlich mit der im Demokratieprinzip des Grundgesetzes verbürgten Chancengleichheit, auf die alle Parteien gleichermaßen Anspruch haben?
Gersdorf: Es ist für eine Demokratie nicht glücklich, wenn eine solche Diskussion über Jahre oder gar Jahrzehnte geführt wird. Vielmehr sollte irgendwann Klarheit herrschen, ob an den Vorwürfen nun etwas dran ist, oder ob sie vielleicht nur vorgeschoben sind. Zumal wenn der Maßstab des Verfassungsschutzes, wie dargestellt, juristisch gar nicht haltbar zu sein scheint.
„Den Willensbildungsprozeß zu lenken, ist typisch für Autokratien“
Sie haben bereits zuvor kritisiert, daß unser Staat sich nicht an die Neutralität hält, zu der er laut Grundgesetz verpflichtet ist, so etwa jüngst in einem Gastbeitrag für die „FAZ“ zum Thema NGOs.
Gersdorf: Ja, denn der Staat kann nicht ohne jede rechtliche Sicherung entscheiden, welche Nichtregierungsorganisationen Steuergelder erhalten. Denn sonst besteht die Gefahr, daß linke Regierungen linke politische Organisation fördern und rechte rechte etc. – und das gilt es zu verhindern.
Warum?
Gersdorf: Weil sich in einer Demokratie der Meinungs- und Willensbildungsprozeß vom Volk zum Staat hin zu vollziehen hat. Und in diesen Kommunikationsprozeß darf der Staat nicht eingreifen, da er sich sonst umzukehren droht.
Aber das tut er doch per NGOs seit Jahren!
Gersdorf: Eben deshalb ja auch meine Kritik. Denn es ist elementarer Bestandteil unserer demokratisch-verfassungsmäßigen Ordnung, daß der Staat die Willensbildung des Volkes nicht steuert!
Sonst?
Gersdorf: Die Meinungs- und Willensbildung zu lenken ist kennzeichnend für Autokratien, um nicht zu sagen: für Diktaturen. Daher brauchen wir gesetzliche Regelungen, die die bisherige unkontrollierte NGO-Förderpraxis beenden.
Heißt das, wir bewegen uns in Richtung Autokratie?
Gersdorf: So weit würde ich nicht gehen, aber ich sehe eine ganz erhebliche Gefahr, und zwar vor allem weil in der Politik und einem Teil der Medien der jetzige Zustand offenbar nicht einmal als Problem gesehen wird: Das entsetzt mich wirklich am meisten!
Daß staatliche Stellen ohne jedes Problembewußtsein durch die Förderung von NGOs auf den gesellschaftlichen Kommunikationsprozeß Einfluß gewinnen und ihn gar zu lenken versuchen, muß uns alle alarmieren: Wehret den Anfängen!
Wenn die Politik nichts ändert, ja nichts ändern möchte, weil es ihr um den Gewinn und die Erhaltung von Macht geht, dann ist es die Aufgabe unserer Bürgergesellschaft, demokratisch aufzustehen, die Gerichte anzurufen und den Staat in seine Schranken zu weisen.
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Prof. Dr. Hubertus Gersdorf bekleidet den Lehrstuhl für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Medienrecht an der Juristenfakultät der Universität Leipzig. Geboren 1962 in Hamburg, war der ehemalige Sachverständige der Enquête-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ des Deutschen Bundestages (2010 bis 2013) zuvor bis 2016 Inhaber der Gerd-Bucerius-Stiftungsprofessur für Öffentliches und Kommunikationsrecht an der Universität Rostock sowie Dozent an der Universität des Saarlandes, der Universität Bonn, der Hamburg Media School und der ebenfalls in der Hansestadt beheimateten Bucerius Law School.