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Literatur des 20. Jahrhunderts: Wie Günter Scholdt und Christoph Fackelmann Lyrik aus der Kulturamnesie bergen

Literatur des 20. Jahrhunderts: Wie Günter Scholdt und Christoph Fackelmann Lyrik aus der Kulturamnesie bergen

Literatur des 20. Jahrhunderts: Wie Günter Scholdt und Christoph Fackelmann Lyrik aus der Kulturamnesie bergen

Drei schwarz-weiße Fotos direkt nebeneinander: links die Dichterin Ricarda Huch, daneben die Dichterin Gertrud Kolmar und zu guter Letzt der Dichter Börries von Münchhausen – drei Lyriker, die während der Zeit des Nationalsozialismus weiter Gedichte verfaßt haben
Drei schwarz-weiße Fotos direkt nebeneinander: links die Dichterin Ricarda Huch, daneben die Dichterin Gertrud Kolmar und zu guter Letzt der Dichter Börries von Münchhausen – drei Lyriker, die während der Zeit des Nationalsozialismus weiter Gedichte verfaßt haben
Ricarda Huch, Gertrud Kolmar, Börries von Münchhausen – Dichter während der Zeit des NS. Foto: IMAGO / GRANGER Historical Picture Archive / picture alliance / akg-images | akg-images / IMAGO / Bridgeman Images
Literatur des 20. Jahrhunderts
 

Wie Günter Scholdt und Christoph Fackelmann Lyrik aus der Kulturamnesie bergen

Die Germanisten Scholdt und Fackelmann präsentieren mit „Eisblumen“ eine heterogene Sammlung nonkonformistischer Lyrik aus der Zeit des Nationalsozialismus. Dabei wird deutlich, wie geschickt und leise damals zuweilen Widerstand geäußert wurde.
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Diese Sammlung von Lyrik einer teils verdrängten, teils mißachteten Epoche hat das Zeug dazu, selbst als epochal betrachtet zu werden. Einzelne alte Bekannte wie Erich Kästner, Wolfgang Borchert oder Jochen Klepper begegnen dem Leser, aber diese annähernd überblickbaren Gebiete sind Randzonen einer weitläufigen Terra incognita.

Eine Vielzahl von Entdeckungen sind hier möglich. Allerdings sollte man bereit sein, auch an Autoren ohne ideologische Vorurteile heranzugehen, die wie Günter Eich, Ernst Bertram oder Gottfried Benn anfänglich ihre kulturpolitischen Hoffnungen in den Nationalsozialismus projizierten oder die wie Josef Weinheber als konservative Einzelgänger durch die nationalsozialistische Propagandamaschinerie eingespannt und mißbraucht wurden.

Die beiden Herausgeber, der emeritierte Germanistikprofessor Günter Scholdt, 1946 in Mecklenburg geboren, im Saarland aufgewachsen und dort jahrzehntelang tätig, und der aus Wien stammende, 1970 geborene Germanist Christoph Fackelmann verkörpern alters- und herkunftsmäßig ein weites Feld unterschiedlicher Zugänge.

Auch ein Verbrecher kann ein großer Künstler sein

Als Ergebnis einer langen Sammel- und Sucharbeit verdeutlicht die Anthologie den Geist der dreißiger und frühen vierziger Jahre, wie er sich in der Poesie von Autoren der Inneren Emigration und in einem zwischen Verweigerung und Anpassung changierenden Umfeld manifestierte.

Scholdt und Fackelmann haben völlig recht, wenn sie die Vermischung literarischer Qualitätsmaßstäbe und moralisch-politischer Werturteile verweigern. Bekanntlich kann ein Verbrecher ein großer Künstler sein und ein Gutmensch künstlerisch eine Null.

Deshalb ist es ebenso mutig wie verdienstvoll, wenn hier neben die Lyrik der großen, im KZ umgekommenen Lyrikerin Gertrud Kolmar und die des hingerichteten Widerstandskämpfers Albrecht Haushofer auch ein Gedicht von Börries von Münchhausen gesetzt wird, dessen kulturpolitische Vorstellungen von Adelsarroganz und Rassenwahn vergiftet waren. Aber er bleibt nun einmal einer der bedeutendsten Balladendichter.

Auf dem Buchcover von "Eisblumen" von Günter Scholdt und Christoph Fackelmann sind die sprichwörtlichen Eisblumen zu sehen, wie sie auf blauem Grund ihre filigranen Formen bilden
Günter Scholdt, Christoph Fackelmann: Eisblumen. 432 Seiten, Lepanto-Verlag, Jetzt im JF-Buchdienst bestellen

Agnes Miegel wird im Buch vermißt

Sein hier zu lesendes Gedicht „Die Hesped-Klage“ von 1906 richtet sich nicht allein gegen das 1905 verübte Massaker von Kischinew an russischen Juden, sondern setzte mit seiner erneuten Veröffentlichung 1941 ein unübersehbares Zeichen. Leider wird man die Kulturfeinde des Wokismus kaum zur Wahrnehmung diesen literaturhistorischen Feinheiten bewegen können, die deutsche Tradition und Kultur politisch verengen wollen – durch Auslöschung auf den Straßenschildern und in den Büchern.

In den für den Münchner Stadtrat 2023 erarbeiteten Listen „historisch besonders belasteter Straßennamen“ erscheinen neben dem „Judenfeind“ Martin Heidegger, dem „bayerischen Haßprediger“ Ludwig Thoma, neben Emil Nolde, drei großen Komponisten und drei Kardinälen sowie neben der 1919 von der „Roten Armee“ ermordeten Sekretärin Haila von Westarp ebenfalls die Lyrikerinnen Agnes Miegel und Ina Seidel, die aus dem Gedächtnis ausradiert werden sollen.

Manches in den „Eisblumen“ ist schmerzlich zu vermissen – nicht zuletzt Agnes Miegel, immerhin dreimal in Reich-Ranickis Kanon „Deutscher Gedichte“ von 2005 vertreten. Allerdings sind ihre herausragenden Gedichte fast immer vor 1933 und wie „Es war ein Land …“ nach 1945 – auf das Verbrechen der Vertreibung reagierend – entstanden.

„Ein jeder spielt um seinen Kopf“

Was entschädigt für Fehlendes, sind wundervolle Gedichte: Einerseits bekannte wie Benns „Gedichte“, das einleitend „das Selbstgespräch des Leides und der Nacht“ zur Aufgabe macht, oder wie Oskar Loerkes „Timur und die Seherin“ oder Georg Brittings „Hektor und Achill“, andererseits eher unbekannte wie „Meier Helmbrecht“ des Österreichers Wilhelm Szabo oder „Das Schicksalsrad“ des Berliners Martin Kessel mit dem Fazit „Ein jeder spielt um seinen Kopf …“ In „Im Trunk“ charakterisiert Kessel „die berauschten Massen“, die „verhöhnt von Morgenröten“ ihrem Elend nicht entgehen.

Es gibt bedeutende zeitkritische Gedichte wie „Wer will die Reinen von den Schuldigen scheiden?“ von Werner Bergengruen oder das Sonett „Nun baut der Wahn die tönernen Paläste …“ von Reinhold Schneider. Noch schärfer und sehr knapp formuliert Erich Kästner seine „Deutsche Gedenktafel 1938“: „Hier ruht einer, welcher an die Menschheit glaubte. /
Er war dümmer, als die Polizei erlaubte.“

Ohnehin kann dieser Kästner fast alles – etwa die „Alte Frau auf dem Friedhof“, die auf den Tod wartet, beschwören. Meisterhaft auch Dr. Owlglass, der eigentlich Hans Erich Blaich hieß, in seinem „Dialog“ mit einem großsprecherisch-anpasserischen Sohn.

Nicht alle sind von Haß und Rachegedanken erfüllt

Die Dichter der Inneren Emigration sehen durchaus ihre eigene Mitschuld und ihr partielles Schweigen zu den Verbrechen der Herrschenden, wenn sie wie Reinhold Schneider ständig „die Nacht, das Unheil und den Tod“ vor Augen haben. Sie verzweifeln wie Josef Weinheber in „Sprachtod“ 1940/41: „Wozu noch Dichter, / wozu, in dürftiger Zeit?“ oder klagen sich wie er an in „Mit fünfzig Jahren“ von 1942:

„… und wie ich gut gewollt

und wie ich bös getan;

der Furcht, der Reu gezollt

und wieder neuem Wahn – …“

Andererseits reagieren die einzelnen Autoren sehr unterschiedlich auf ihre Zeit. Nicht alle sind so von Haß und Rachegedanken erfüllt wie die große Ricarda Huch 1944 („Mein Herz wird hassen, was es haßte, / Mein Herz hält fest seine Beute“), nicht allen gelingt es wie Gertrud Kolmar in „An die Gefangenen“ von 1933, Zeitkritik in eine erschütternde und bezwingende Dichtung einzubetten. Aber auch einige tagespolitische und zum Teil agitatorische Gedichte in dieser Anthologie sind von Bedeutung, um ein Gesamtbild zu erhalten.

Ein großartiges Ausrufezeichen ist geschaffen

Immer wieder sind Entdeckungen zu machen: Martin Behaim-Schwarzbach mit seinem apokalyptischen „Der große Abend“ von 1935, der Österreicher Rudolf Henz mit „Bei der Arbeit an den Klosterneuburger Scheiben“ von 1943/44, Martha Saalfeld mit „Der Herbst ist gut“ von 1935, Hans Carossa 1943 mit seinem bedeutenden Langgedicht „Abendländische Elegie“, Wolf von Niebelschütz mit einem Sonett über das 1940 kriegszerstörte „Évreux“ (1942) und mit „Eisblumen“ (1939). Zu Details und Zusammenhängen der Gedichte informiert sehr eingehend der Kommentarband (Teil II Grundlagen).

Ein großartiges Ausrufezeichen gegen die amtlich verordnete Kulturamnesie und Traditionszerstörung ist mit dieser Anthologie geschaffen – jetzt ist ein wirkkräftiger Widerhall bei den Lesern wie auch bei den Germanisten gefragt.

Aus der JF-Ausgabe 23/25.

Ricarda Huch, Gertrud Kolmar, Börries von Münchhausen – Dichter während der Zeit des NS. Foto: IMAGO / GRANGER Historical Picture Archive / picture alliance / akg-images | akg-images / IMAGO / Bridgeman Images
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