Den letzten Anhaltspunkt über das Schicksal der Dichterin Gertrud Kolmar liefert mit makabrer Präzision ein Fahrplan der Reichsbahn. Demzufolge verließ die 48jährige Frau mit etwa 1.500 deutschen Juden am 2. März 1943 den Bahnhof Berlin-Moabit. Sie befand sich im 32. aus dem Reichsgebiet abgehenden „Osttransport“. Nach 17stündiger Fahrt durch Schlesien erreichte der Deportationszug am nächsten Morgen das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz.
Wer in den elektronischen Katalog der Staatsbibliothek Berlin ihren Namen eingibt, erhält achtzig bibliographische Nachweise. Siebzig davon datieren erst aus der Zeit nach der Wiedervereinigung. 1993 fand dann im Deutschen Literaturarchiv in Marbach eine vielbeachtete Ausstellung zu Kolmars 50. Todesjahr statt. 1995, mit leichter Verspätung zum 100. Geburtstag im Dezember 1994, erschienen die erste umfassende Einführung in das vornehmlich lyrische Werk Kolmars, vorgelegt von Monika Shafi, sowie die 2001 auch als Taschenbuch veröffentlichte, in Maßen populär gewordene Darstellung zu „Leben und Werk“ von Johanna Woltmann. Seitdem mehrt sich der Nachruhm einer Dichterin unaufhörlich, die mittlerweile jede Literaturgeschichte, mit unanfechtbarem Recht, als bedeutendste deutsche Lyrikerin nach Annette von Droste-Hülshoff würdigt.
Alltag der als Juden stigmatisierten Bürger des Deutschen Reiches
Es erstaunt daher nicht, wenn auch die autobiographischen Zeugnisse der „preußischen Sappho“, die Briefe, die sie zwischen 1938 und 1943 ihrer in die Schweiz emigrierten jüngsten Schwester Hilde Wenzel schrieb, so starken Widerhall fanden, daß die Doyenne der Kolmar-Forschung, die Germanistin Johanna Woltmann, nun eine dritte, wiederum erweiterte Fassung der von ihr 1970 erstmals erarbeiteten Edition präsentieren kann.
Im geradezu verstörenden Gegensatz zu Tagebüchern des in gleicher Verfemung existierenden Dresdner Romanisten Victor Klemperer und des 1941 nahe Riga von Reinhard Heydrichs SS-Schergen erschossenen Breslauer Historikers Willy Cohn gewähren Kolmars Briefe aber kaum Einblicke in den Alltag der als Juden stigmatisierten Bürger des Deutschen Reiches.
Denn selbst auf verklausulierte Botschaften „zwischen den Zeilen“ konzentrierte Lektüre fördert zeithistorisch wenig Relevantes zu Tage. Ohne Woltmanns Kommentar, ohne ihr Nachwort erführe der Leser nicht, in welchen Bedrängnissen die sich mitunter einer kindlichen Tarnsprache befleißigenden Epistel entstanden sind. Ihre polyglotte Verfasserin, die während des Ersten Weltkrieges selbst als Zensorin eines Gefangenenlagers tätig war, wußte, daß ihre Briefe mitgelesen wurden. Ihr scheinbar oberflächliches Geplauder über die Banalitäten ihres reduzierten Daseins konturiert daher kaum die wesentlichsten Umbrüche.
Als zwangsverpflichtete Jüdin in einer Kartonagenfabrik
Nur dank Woltmanns Annotationen treten sie ans Licht. Zuvörderst der Zwangsverkauf des Landhauses in Finkenkrug nahe Spandau. Kaum zwei Wochen nach der „Reichskristallnacht“ am 9. November 1938 mußte dieses pastorale Idyll, das der vermögende Justizrat Ludwig Chodziesner 1920 erworben hatte, geräumt werden. Dafür eingetauscht hatten Vater und Tochter eine Etage in einem Schöneberger Wohnblock, der bald zum „Judenhaus“ deklariert wurde. Zuletzt, 1942, verblieb ihnen davon ein Zimmer, in dem ein Vorhang Reste der Intimsphäre wahrte. Gertrud Kolmar war zu dieser Zeit längst froh, der drangvollen, lärmigen Enge des Hauses jeden Morgen entfliehen zu können, da sie als zwangsverpflichtete Jüdin in einer Kartonagenfabrik arbeitete.
Die Banalitäten, die das Weltkriegsgeschehen wie den auf Massenmord zutreibenden nationalsozialistischen Mechanismus der Ausgrenzung bestenfalls in Spurenelementen widerspiegeln, erleichtern es, die Briefe geradezu jenseits ihres zeitgeschichtlichen Kontextes zu interpretieren. Eine solche Deutung legen auch familiäre Konnexionen nahe. Gertrud Kolmar war die Cousine des mit der „Frankfurter Schule“ um Max Horkheimer und Theodor W. Adorno eng verbandelten unorthodoxen Marxisten Walter Benjamin.
Diese jüdischen Intellektuellen verhandelten die seit Ende des 19. Jahrhunderts europaweit virulente Judengegnerschaft nicht im nach 1945 üblich gewordenen primitiven Diskurs als aus „Vorurteilen“ entsprungenen „dumpfen Antisemitismus“, sondern als „Ritual der Zivilisation“. Der judenfeindliche Nationalsozialismus war demnach bestenfalls einer von zahlreichen Ablegern des im Zeitalter der Extreme scheinbar unüberwindlichen Widerstands gegen die kapitalistische Moderne.
Sprachgewaltiges Werk
Übereinstimmend mit den „Frankfurtern“ und mit den in den 1930ern publizierten altertumswissenschaftlichen Einsichten in evolutionär tief in der Menschheitsgeschichte verankerte Ausgrenzungspraktiken lassen sich daher Kolmars nicht an Erfahrungen im NS-Reich gebundene Notate mühelos übertragen auf andere totalitäre Konstellationen, etwa auf die McCarthy-Hysterie in den USA, auf das im Ostblock bis 1989 dominierende Freund-Feind-Klima oder die Pogromstimmung, die Westeuropas Führungsschichten augenblicklich gegen die Kritiker der von ihnen als „Einwanderung“ drapierten Umvolkung schüren.
Das lyrische Œuvre Gertrud Kolmars steht einer derart gegenläufigen Rezeption beileibe nicht im Wege. Bietet doch bereits ihr schmales, sprachgewaltiges Werk „Preußische Wappen“ (1934), das die mythische Topographie heute versunkener Ortschaften des deutschen Ostens, Pillau und Allenburg, Pyritz und Baldenburg, Wormditt und Stallupönen, Frauenburg, Tapiau und Gilgenburg beschwört, ohne in „Heimatlyrik“ abgleiten zu wollen, auch im Urteil der hilflos im ahistorischen Gender Mainstreaming gefangenen Kolmar-Exegese eine „grandiose Absage an Zivilisation und Moderne“, als „deren zentrales Merkmal die ökonomischen Werte gelten können“ (Monika Shafi).
Patriotismus wurde Gertrud Kolmar zum Verhängnis
Mit ihrer naturmagischen Zivilisationskritik, die sie mit den „inneren Emigranten“ Oskar Loerke, Wilhelm Lehmann, Elisabeth Langgässer, Horst Lange und Günter Eich verband, gehört Kolmar zweifelsohne ins geistige Strahlenfeld der Konservativen Revolution. Die Tochter eines deutschnationalen, kaisertreuen Justizrats, erfolgreichen Strafverteidigers und „assimilierten ‘Feiertagsjuden’“ (Dieter Kühn), der selig auf seine Universitätszeit zurückblickte, als der Jurastudent nicht nur bei Treitschke und Mommsen hineinschmeckte, sondern auch eifrig Reichstagdebatten beiwohnte („Was war das für ein Glück, wenn Bismarck das Wort ergriff!“), entstammte jenem in der Provinz Posen, in der Neumark und in Hinterpommern beheimateten Judentum, das sich in nur zwei Generationen in die bürgerliche Gesellschaft des Kaiserreichs integrierte, weil es sich rückhaltlos mit dem deutschen Nationalstaat sowie mit den Idealen humanistischer Bildung, mit Potsdam und Weimar, identifizierte. Dieser Patriotismus des 1942 ins KZ Theresienstadt deportierten, dort umgekommenen Juristen wurde auch seiner Tochter, die nie den Fuß in eine Synagoge gesetzt hatte, zum Verhängnis, da sie nicht emigrierte, „weil sie in Deutschland geboren war und dort bleiben wollte“.
Wenn jetzt zum 70. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz am 27. Januar wieder Schulddeklamationen und antinationale Instrumentalisierungen der jüdischen NS-Opfer anstehen, sollte man sich des unendlichen Abstandes erinnern, der zwischen toten jüdischen Deutschen wie Ludwig und Gertrud Chodziesner und denen liegt, die ihre Namen mißbrauchen, um ein multikulturelles Nichts zu schaffen, in dem jede Erinnerung an sie und ihre Leidensgenossen getilgt sein wird.