Der Dichter und seine Zeit, die beliebte Formulierung – welche Harmlosigkeit, welche glatte Sicherheit in Bereichen, in denen alles fragwürdig ist“, warnte 1930 Gottfried Benn. Denn was ist die Zeit? Ist künstlerische Größe überhaupt historisch wirksam? Und wie ist es mit dem historischen Prozeß: kann er, kann jemand für ihn fordern, daß ihm die Kunst oder die Erkenntnis dient? Fragen über Fragen, die Gottfried Benn, der sich dem bürgerlichen Entwicklungsgedanken des 19. Jahrhunderts entschlossen verweigerte, immer wieder beschäftigten. Helmut Lethen, inzwischen emeritierter Germanist in Rostock, ließ sich nicht von solchen Einwänden entmutigen. Beherzt behandelt er pauschal „Gottfried Benn und seine Zeit“. Immerhin eine Zeit, in der sich die alten Sicherheiten der bürgerlichen Kultur und der Bürgerlichkeit als Lebensform auflösten. Anderenteils raunt der Obertitel vom „Sound der Väter“ und weckt Erinnerungen an Jazz und Lyrik, wie sie vor fünfzig Jahren kombiniert wurden. Eine Biographie im herkömmlichen Sinne beabsichtigte er nicht zu schreiben. „Kalenderstrecken“ zum Leben Gottfried Benns und „Ruheplätze“, um die unheimlichen Nachbarschaften aufzuzeigen, in denen die Essays und Gedichte stehen, wechseln einander ab. Aus dem verspielten Umgang mit dem Hauptthema und den aus ihm entwickelten Leitmotiven und ihren improvisierten Variationen soll sich allerdings das Psychogramm einer Epoche ergeben. Welcher Epoche wird nicht weiter gesagt, denn die Lebenszeit Gottfried Benns umspannt mehrere Epochen mit ihrem Zeitgeist, ihren kollektiven seelischen Spannungen. Aber wir haben gelernt, in postmodernen Zeiten die Worte nicht unbedingt mehr beim Wort nehmen zu müssen. Sie sind Anreize, Signale, sie wollen nur etwas im Hörer zum Klingen bringen oder dem Leser einen Assoziationsraum öffnen. In einem solchen Wortverständnis nennt Lethen etwa die Bereitschaft Benns, 1933 die eugenische Sprache der Nationalsozialisten – die auch von guten Demokraten damals gebraucht wurde und von ihnen längst wieder benutzt wird – aufzugreifen oder die Säuberung der Akademie der Künste von regimefeindlichen Künstlern hinzunehmen, kurz und bündig ein Verbrechen. „Nicht um den Tatbestand mit Hilfe einer juristischen Definition festzustellen, sondern um ihm Kontur zu geben.“ Mit konturierten Sachverhalten kann man wie mit Gegenständen umgehen. „Man braucht sie nicht unbedingt mit einer unauslotbaren Vorgeschichte und einer nicht enden wollenden Nachgeschichte zu versehen.“ Unter solchen Voraussetzungen kann Gottfried Benn umstandslos 1934 zum bekennenden Antifaschisten werden und darf seitdem als kritischer Kopf melancholisch durch Schattenreiche wandeln, die sich als gewaltige Zeiten feiern lassen, nicht ohne zu vergessen, in wunderbaren Reimen zusammenzufassen, was ihn bekümmert und bedrückt. Nichts im Leben Gottfried Benns irritierte so sehr wie seine kurzfristige Parteinahme für die „nationale Bewegung“ und den „neuen Staat“. Sie hat eine Nachgeschichte – zu der die Legende gehört, er hätte sich an der Säuberung der Akademie der Künste beteiligt – und vor allem eine Vorgeschichte, die gar nicht gründlich untersucht ist und die Helmut Lethen überhaupt nicht interessiert. Gottfried Benn war eben ein Irrender. Aber warum irrt sich ein kluger Kopf und großer Ästhet und wird zum begeisterten Nationalsozialisten? Warum gilt ein rasch enttäuschter Nationalsozialist, von der Partei geschurigelt und dem Publikationsverbot unterworfen, als „Nazi-Dichter“ in der Nachkriegszeit, während der doch allen möglichen Kämpfern und Parteigenossen die Chance eingeräumt hatte, Wunder zu wirken und dem allerneuesten Staat Weihen zu verleihen, an die Bundesrepublikaner von der strengsten Observanz wie an religiöse Offenbarungen glauben? Was die Sache noch spannender macht: Der Dichter mit Berufsverbot, der in der Wehrmacht untertauchte, ließ sich auch nach 1945 nicht darin beirren, daß der Nationalsozialismus „ein echter und tiefangelegter Versuch“ gewesen sei, „das wankende Abendland zu retten“. Ungeeignete und kriminelle Elemente bekamen leider rasch das Übergewicht, was nicht vorauszusehen war. Das sind sehr ungewöhnliche und erklärungsbedürftige Worte, gerade im Milieu der Bundesrepublik, die zur Lüge nahezu herausforderte. Die Dinge zu verstehen, heißt sie zu komplizieren. Helmut Lethen weicht den Schwierigkeiten aus und zieht den „Sound“ und die zu ihm gehörenden Klischees vor. Benn ist so kalt, und ach, wie kalt sind manche seiner Zeitgenossen, wie kalt ist die Welt, ob aus der rechten Fankurve oder der linken betrachtet. Das bekümmert ihn auf „Ruheplätzen“. Doch was heißt schon Kälte, wenn es um ein Kunstwerk geht? Richard Strauss, der Musiker, riet immer dazu, den eigenen Gemütsaufwallungen zu mißtrauen und mit kühlem Kopf zu arbeiten. Hugo von Hofmannsthal sah es nicht anders. Kunst ist Arbeit im Labor, Sezierung, Beobachtung – das „naturwissenschaftliche“ Vokabular des Arztes Benn war beiden vertraut. Auch sie wollten experimentell die eigenen Springbrunnen hochwerfen und mit ihrem Steigen und Fallen Echowände schaffen. Die mathematisch-statistischen Naturwissenschaften für Wissenschaften zu halten, kam Gottfried Benn nie in den Sinn. Für ihn gab es nichts Verträumteres als den Darwinismus, den praktischen Traum der Utilitaristen, die im Individuum nichts weiter sehen als Muskulatur, Ware, Schlacke und Geschäft. Das verband ihn mit Ernst Jünger und Carl Schmitt. Beide hält Helmut Lethen selbstverständlich für kalt und formalistisch. Gehört er als Kenner der kalten Moderne etwa zu denen, die den Drang zur Form als minderwertig-mediterran auffassen, wie Benn spottete, Klarheit für widernatürlich und Begriffsleben für unreligiös halten? Solchen Kulturträgern unterstellte Benn, nach einer Notverordnung für Deutschland zu streben: „Denken ist zynisch, es findet hauptsächlich in Berlin statt, an seiner Stelle wird das Weserlied empfohlen.“ Der Rostocker Emeritus erläutert beiläufig, daß es erstaunlicherweise auch unter den „warmen“ Linken kalte Menschen geben kann. Aber Benn, Jünger, Schmitt scheinen ihm der Phänotyp des deutschen Mannes aus dem Zeitalter der Neurasthenie zu sein, aus dem Zeitalter des Wilhelminismus. Immer soldatisch angestrengt um Form bemüht, asketisch besorgt, das Gesicht zu wahren, um satisfaktionsfähig zu bleiben und nicht als effeminiert wegen schwacher Nerven aufzufallen. Gottfried Benn hatte schon 1920 solche nationalen Begründungen beiseite geschoben: „Gab es überhaupt noch Völker? War überhaupt noch etwas nicht europäisch vor dem Krieg?“ Die Nerven spürten alle Europäer, die sich bald an die Neurosen gewöhnten, die unser Leben erst interessant machen. Gottfried Benn, Carl Schmitt und Ernst Jünger sind längst zu europäischen Phänomenen geworden und damit den Konstruktionen ideologischer Heimatkunde im Geltungsbereich des Grundgesetzes entrückt. Die drei sind kein besonderes Trio infernal deutscher Provenienz. Benn schätzte Carl Schmitt als phantasievollen Rechtsdenker, in Ernst Jünger erkannte er nur einen verbalen Pillendreher. Er war sehr verärgert, immer mit ihm verglichen zu werden, nur weil sie politisch keine Gegner waren. Darüber unterrichtet der spärliche Briefwechsel mit Ernst Jünger, der jetzt vorzüglich kommentiert vorliegt. Gottfried Benn wahrt die Höflichkeit. Ganz unwillkommen ist ihm dieser Pillendreher für die Ausstattung einer geistigen Hausapotheke mitten im Kalten Krieg überhaupt nicht. Benn ist ein kalter Krieger, ein Adenauer-Deutscher, ein Westdeutscher schlechthin, wie Ernst Jünger. Aber dennoch blieb Ernst Jünger für ihn eingebildet, wichtigtuerisch, stillos, sprachlich unsicher und charakterlich unbedeutend. Kein schlechtes Urteil. Carl Schmitt hatte sich bald nach dem Krieg mit Jünger überworfen. Der Prophet Ernst Däublers und Exeget des streng- katholischen Konrad Weiß amüsierte sich meist über den Gottfried und dessen pietistischen Kult des Individuums, das vor den Abgründen sich mit Kaffee und Streuselkuchen beruhigt. Solche Vorbehalte schlossen kameradschaftliche Stimmungen nach dem „Zusammenbruch“ unter den drei Intellektuellen nicht aus. Sie waren sich mit Benn wenigstens darin einig: Ein wirklicher Gedanke ist nie zersetzend, sofern sich in ihm trotz des Truges der Einzelheiten und der wechselnden Wirklichkeiten eine wirksame Kraft bemerkbar macht. Helmut Lethen hat freilich Angst vor Gedanken, weil er Angst hat vor dem Wahn der Wirklichkeiten und dem tiefen Ich, das von trügerischen Einzelheiten längst ermüdet unter Umständen keinen Halt im Verfassungspatriotismus oder im Menschenbild des Grundgesetze findet. Deswegen fürchtet er sich auch vor dem Rat Gottfried Benns: zuweilen aufs Wasser zu sehen und das Abwartende zu pflegen, das Auswirkenlassen des Seins. Denn dieser Rat könnte zu politisch unkorrektem Verhalten verleiten und dem lyrischen Ich gefährlich werden. Und gerade das kann nicht die Aufgabe der Lyrik sein. Helmut Lethen: Der Sound der Väter. Gottfried Benn und seine Zeit. Verlag Rowohlt. Reinbek. 2006, gebunden, 304 Seiten, 22,90 Euro Holger Hof (Hrsg.): Gottfried Benn – Ernst Jünger. Briefwechsel 1949-1956. Verlag Klett- Cotta. Stuttgart 2006, gebunden, 128 Seiten, 14,50 Euro