Nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich die ohnehin schon bewunderte französische Küche zum Taktgeber der Spitzengastronomie. Jahrzehntelang war sie das Maß aller Dinge und ist es, was diverse Grundlagen angeht, heute immer noch. In den Sechzigern erklärte sich der bei Lyon geborene Paul Bocuse zum „König der Köche“ und wurde zu einem internationalen Superstar.
Seitdem haben sich neue Trendküchen entwickelt, wie sich an den Innenstadt-Restaurants unschwer ablesen läßt. Seit den Achtzigern erregt die „New American Cuisine“ Aufsehen. In den neunziger und nuller Jahren sorgten spanische Köche mit der Molekularküche für Furore. Und seit den zehner Jahren dreht sich vieles um die „New Nordic Cuisine“ mit dem Noma in Kopenhagen als Epizentrum und lange Zeit „bestem Restaurant der Welt“.
Welche kulinarische Richtung beziehungsweise Nation oder Region wird der kommende Hype in der Sterneküche? Einige Anwärter gibt es bereits. Vielleicht schafft es die Tex-Mex-Fusionküche auf die große Anrichte-Pinzetten-Bühne oder die zunehmend beliebte Mélange aus japanischen und koreanischen Elementen mit südamerikanischen und europäischen Einflüssen. Aber warum sollte nicht mal die deutsche Küche ins Rampenlicht rücken?
Immer mehr junge Leute achten auf ihre Ernährung
Denn neben Spitzenrestaurants gibt es hierzulande auch immer mehr Spitzenprodukte aus unseren Landen. Die fälschlicherweise stets als links und öko verschriene Nachfrage nach biologischen, regionalen und saisonalen Produkten hat hier tatsächlich etwas Positives bewirkt: zurück zum heimischen Markt, zu Lieferanten, Bauern, Züchtern und Fischern und ihren einheimischen Rassen, Arten und Pflanzen.
Gleichzeitig führen Fitneßbegeisterung, Social Media sowie die durch Corona gestiegene Sensibilisierung bei Gesundheitsfragen und industriellen Massenprodukten zu einem gestiegenen Interesse junger Menschen beim Thema Ernährung. Influencer und Youtuber wie Coach Aaron, Fabian Kowallik oder Timo G. erreichen Hunderttausende mit Ernährungstips und Erklärvideos zu Körper und Nährstoffen – etwas, was im Sport- und Biologieunterricht an den Schulen zu kurz kommt. Und auch wenn manche Trendthemen und Aussagen zu Heilpflanzen, Fetten, Gewürzwirkungen oder Rohmilch umstritten sind, so bewirken sie zumindest, daß junge Deutsche – auch rechte – im Supermarkt genauer hinschauen und beim Einkauf vermehrt auf natürliche lokale Produkte achten.
Deutsche Spitzenrestaurants setzen auf eigene Zutaten
Schon Bocuse und der ebenfalls aus der Métropole de Lyon stammende Alain Chapel setzten bei ihrer „Nouvelle Cuisine“ neben der französischen Tradition auf einen möglichst klaren Eigengeschmack erstklassiger frischer Nahrungsmittel aus der Umgebung und entwickelten die altehrwürdige „Haute Cuisine“ dementsprechend weiter, machten sie leichter und feiner. Ganz ursprüngliche französische Gerichte sind wie die typischen deutschen eher schwer und deftig. Der österreichische „Koch des Jahrhunderts“ Eckart Witzigmann brachte diese Herangehensweise auf Weltniveau Anfang der Siebziger nach Deutschland.
Heutige deutsche Spitzenrestaurants verfolgen dies mit eigenen Gärten, Versuchswerkstätten, benachbarten Produzenten und teilweise radikalen Ansätzen weiter und brechen dabei – bewußt oder unbewußt – die französische Dominanz, die bei einigen Produkten und Lieferketten immer noch besteht. Denn wozu bedarf es Käse, Wurst, Wein, Austern, Hühner, Butter, Pasten und Pasteten aus Frankreich, wenn man dies alles um die Ecke bekommen oder selbst herstellen kann? Ein selbstbewußter inländischer Abgesang auf vermeintliche Luxuszutaten aus dem Ausland, der linke Achtsamkeit und rechtskonservativen Patriotismus in der Zuneigung zur eigenen Natur vereint.
Das mit einem Michelin-Stern ausgezeichnete „Oben“ in Heidelberg verwendet nicht einmal Meeresfische aus der Nord- oder Ostsee, eben weil sie von weit her kommen. „Wenn ich einen Salzwasserfisch essen möchte, dann soll ich mich in die Region des Meerwassers begeben, nach Norddeutschland oder ans Mittelmeer, und dann kann ich da probieren und essen, was die Region hergibt“, sagt Chefkoch Robert Rädel in der ARD-Dokureihe „Am Paß“ (Anrichte zwischen Herd und Service). Eben das mache die interessante Bandbreite und Vielfalt aus. „Was ist daran besonders, das gleiche in Heidelberg zu essen wie in New York?“
„New German Cuisine“ fehlt noch die Spitze
Das Nürnberger Zwei-Sterne-Restaurant „Etz“ versucht sich an der auslotenden Entwicklung, wie eine neue deutsche Küche aussehen könnte. Daher mehr selbst züchten und veredeln, statt sehr teuer fertig global einkaufen. Es gebe „zwei bis drei Hochküchen auf der Welt“ wie die französische oder die japanische, die aufgrund von Klima und Topographie vor Ort „besondere Dinge“ hervorbringen, „die es nur dort gibt“, betont Küchenchef Felix Schneider gegenüber dem ARD-Format. „Und dann entwickelt sich über Jahrhunderte ein Bewußtsein, aber auch ein Handwerk um diese Produkte herum und führt sie in die Höhe, bis das absolute Spitze ist und eigentlich nicht mehr besser werden kann.“
In Deutschland sei ersteres vorhanden, aber zweites nicht: „Das heißt, wir haben diese Produkte, aber wir haben nicht das Bewußtsein, daß es sie gibt, und wir führen sie auch nicht zum absoluten Höhepunkt.“ Stattdessen hätten deutsche Köche jahrzehntelang „vor allem auch produktmäßig“ nach Frankreich geschaut, so daß dortige Produkte als hochwertig gelten, während die eigene Eßkultur und die eigenen Erzeugnisse, die „auch in einer exorbitanten Güte vorliegen“, ein bißchen vergessen wurden.
Genau dies ändert sich momentan an einheimischen privaten und professionellen Öfen, und wer weiß, vielleicht schwärmen in wenigen Jahren viele Feinschmecker weltweit von der „New German Cuisine“ – den Begriff gibt es bereits, fehlt nur noch die absolute Spitze.