Die EU braucht mehr Geld. Der 2021 in Kraft getretene „Mehrjährige Finanzrahmen“ (MFR) für den Zeitraum 2021 bis 2027 im Gesamtumfang von 1.216 Milliarden Euro scheint nicht auszureichen. Zeitgleich wurde der schuldenfinanzierte Corona-Aufbaufonds „NextGenerationEU“ (NGEU/807 Milliarden Euro) beschlossen – beide Angaben in laufenden Preisen. Die zugrundeliegenden Annahmen, Prognosen und Zielsetzungen sind teils überholt, so daß die EU-Kommission kürzlich einen Mehrbedarf von 65,8 Milliarden Euro (5,4 Prozent) zur Aufstockung des MFR gegenüber den EU-Mitgliedstaaten anmeldete.
Wie werden die Mehrausgaben begründet? Da sind erstens die gestiegenen Zinskosten für den NGEU, für den die EU-Staaten garantieren – Deutschland mit jährlich bis zu 32,6 Milliarden Euro. Die EU-Kommission kalkulierte mit einem Zinsanstieg auf 1,15 Prozent. Doch der Zinssatz für zehnjährige EU-Anleihen stieg von 0,09 Prozent (2021) auf 3,2 Prozent im Mai 2023. Die scheinbar kostengünstige Finanzierung entpuppt sich als Kostenfalle. Denn auch die Rating-Herabstufung Frankreichs als Garantiegeber verteuert die künftige Schuldenaufnahme. Ergebnis: Statt 14,9 Milliarden Euro Zinsausgaben ein Mehrbedarf allein bis 2027 von 18,9 Milliarden Euro – für den österreichischen Haushaltskommissar Johannes Hahn (ÖVP) „primär technischen Faktoren geschuldet“.
Zweitgrößter Preistreiber Ukraine-Unterstützung
Zweitgrößte Position mit einer Netto-Belastung von 17 Milliarden Euro ist die finanzielle Beteiligung der EU am Rußland-Ukraine-Krieg. Hierzu wird eine „Fazilität für die Ukraine“ – Finanzhilfen, Darlehen und Garantien umfassend – mit einer Gesamtkapazität von 50 Milliarden Euro im Zeitraum 2024 bis 2027 „zur Deckung des unmittelbaren Bedarfs der Ukraine sowie für ihren Wiederaufbau und ihre Modernisierung auf ihrem Weg in die EU“ errichtet. Die Darlehen an die Ukraine sollen wiederum durch die Aufnahme von EU-Anleihen finanziert werden, für die letztendlich die EU-Staaten garantieren.
Schließlich ist eine Aufstockung des EU-Haushalts in Höhe von 15 Milliarden Euro für „Migrationsmanagement, Stärkung von Partnerschaften und Bewältigung von Notlagen“ vorgesehen, um „auf die inneren und äußeren Herausforderungen durch Migration reagieren zu können und die Partnerschaft der EU mit wichtigen Drittländern zu stärken“. Neben zwei Milliarden Euro für Grenzkontrollen, 10,5 Milliarden Euro unter anderem für den Westbalkan und Flüchtlinge sind 2,5 Milliarden zur Unterstützung der Reaktionsfähigkeit der EU bei Krisen und Naturkatastrophen vorgesehen.
Was sind überhaupt notwendige EU-Ausgaben?
Gemäß dem Grundsatz guter Haushaltsführung wären zunächst Antworten auf folgende Fragen zu finden: Was sind die notwendigen EU-Aufgaben gemäß dem Subsidiaritätsprinzip (Artikel 5 EU-Vertrag)? Welche Maßnahmen sollen konkret ergriffen werden (Wirksamkeit)? Welche Ausgaben fallen dafür an (Kosteneffizienz)? Und welche Einnahmequellen sollen hinsichtlich Einfachheit der Erhebung, Transparenz und Angemessenheit herangezogen werden?
Auf die Anmaßung von Aufgaben durch die EU (Agrarsubventionen, Investitionsförderung für Industrie und Klimaschutz), eine mangelnde Wirksamkeit von Maßnahmen (EU-Grenzschutz, Bekämpfung von Migrationsursachen, Klimaschutz) und die Geldverschwendung (sechs Prozent des Haushalts sind Verwaltungsausgaben; intransparente Bestellung von Corona-Impfstoffen; überteuerte Haussanierungen in Italien, JF 32/23) soll hier nicht näher eingegangen werden. Dennoch sind dies Hinweise, daß Haushaltsmittel bei entsprechender Prüfung alleine durch Umschichtungen vorhanden wären.
Alle 27 Mitgliedstaaten müssen einer Finanzreform zustimmen
Hinzu kommt, daß aus dem NGEU an die Mitgliedstaaten derzeit lediglich 19 Prozent abgeflossen sind, obwohl dieser Fonds „eine einmalige Gelegenheit [ist], gestärkt aus der Pandemie hervorzugehen“ – also ein zeitnaher Mittelabfluß geboten erscheint. Der Grund liegt in den zumeist völlig unzureichenden nationalen Planungskapazitäten, um die zugesagten Mittel – möglichst sinnvoll – einzusetzen. Stattdessen schlägt die EU-Kommission neue „Eigenmittel“ vor, für die die Eigenmittelverordnung gemäß Artikel 311 AEU-Vertrag geändert werden müßte – Einstimmigkeit der Mitgliedstaaten vorausgesetzt. Hierbei ist die Besonderheit der EU als supranationaler Zusammenschluß der 27 Mitgliedstaaten hervorzuheben.
Die EU ist zwar mehr als ein Staatenbund auf völkerrechtlicher Grundlage, aber kein Bundesstaat. Deshalb besitzt die EU auch keine eigene Steuerhoheit, sondern ist auf Beiträge und Zuweisungen der Mitglieder angewiesen – ähnlich dem Bismarckschen System der Matrikularbeiträge der Länder an das Deutsche Reich. Bislang bestehen die Eigenmittel (Stand 2021) vornehmlich aus Zöllen (zwölf Prozent), Beteiligungen an den nationalen Mehrwertsteuer-Einnahmen (elf Prozent) und Bruttonationaleinkommen(BNE)-Eigenmitteln (73 Prozent), die sich nach der Wirtschaftskraft der Staaten (Bruttoinlandsprodukt plus Saldo der Primäreinkommen mit dem Ausland) bemessen. Insgesamt dürfen die Eigenmittel 1,4 Prozent der Wirtschaftskraft nicht überschreiten.
Reform der Verschuldungsregeln könnte dringlicher werden
Nach dem Willen der EU-Kommission soll eine neue Unternehmensabgabe und eine höhere Beteiligung am Emissionshandelssystem (ETS) zu zusätzlichen Einnahmen führen. Die Unternehmensabgabe würde 0,5 Prozent der Unternehmensgewinne betragen. Sie wäre zunächst kein Steueraufschlag für die Unternehmen, jedoch von den Mitgliedstaaten abzuführen und würde deshalb deren Steuereinnahmen schmälern. Einzelne Mitgliedstaaten fühlen sich überdurchschnittlich belastet, was die Verhandlungen zusätzlich erschwert. Jährlich wird mit 16 Milliarden Euro an Mehreinnahmen gerechnet, die zur Schuldentilgung für den NGEU verwendet werden sollen.
Außerdem sollen Mehreinnahmen aus dem Emissionshandelssystem durch die erhöhte Abgaben-Beteiligung ab 2024 etwa sieben Milliarden Euro (2028 bis zu 19 Milliarden Euro) und eine geänderte Berechnung des CO2-Grenzzolls (CBAM, JF 18/23) 1,5 Milliarden Euro pro Jahr erbringen. In der Summe würde das den EU-Haushalt um 25 bis 36 Milliarden Euro jährlich „bereichern“ – zu Lasten der Mitgliedstaaten, die deshalb die Verhandlungen unterbrochen haben. Parallel drängt die EU-Kommission auf eine Aufweichung bzw. Flexibilisierung der Verschuldungsregeln – ein Schelm, wer Böses dabei denkt.
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Prof. Dr. Dirk Meyer lehrt Ökonomie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg.