Der deutsch-schweizerische Philosoph Michael Esfeld ist einem breiten Publikum bekannt geworden, als er, zusammen mit seinem Kollegen Christoph Lütge, auf dem Höhepunkt der Corona-Krise 2021 die Frage stellte „Und die Freiheit?“ (Riva Verlag). In jenem Buch ging es um den Mißbrauch der Wissenschaft und die Bedrohung der offenen Gesellschaft durch die Corona-Politik.
Dieses Thema greift Esfeld in seinem aktuellen Buch wieder auf, entwirft aber ein breiteres Bedrohungsszenario, in dem die Corona-Politik nur eines von vielen Beispielen dafür ist, wie die Zerstörung von Wissenschaft und freiheitlicher Rechtsordnung zum „postmodernen Totalitarismus“ führt. Denn dieser zeichnet sich im Unterschied zum traditionellen Totalitarismus der Kommunisten oder der Nationalsozialisten dadurch aus, daß es kein eines, alles überragendes Endziel mehr gibt, durch dessen Scheitern die zugrundeliegende Ideologie ein für allemal desavouiert werden kann.
Der postmoderne Totalitarismus bedient sich vielmehr „kleiner“ Narrative. „Das macht das postmoderne Regime so gefährlich: Es ist keineswegs damit erledigt, daß man das gerade vorherrschende Narrativ (wie das Corona-Narrativ) entlarvt. Es folgt dann einfach das nächste Narrativ (wie das Klima-Narrativ).“
Die „real existierende“ Postmoderne wurde während Corona totalitär
Auf welche Weise solche Narrative eine Kultur der Abhängigkeit erzeugen und langfristig zum Totalitarismus führen können, erläutert der Autor ausführlich und überzeugend am Beispiel der Corona-Krise. Besonders unrühmlich war in dieser Krise die Rolle der Wissenschaft. Aus Selbstüberschätzung oder Machtgier hätten sich viele Wissenschaftler dem „politischen Szientismus“ verschrieben und versucht, das gesellschaftliche und das private Leben auf ein allgemeines Gut (hier: den Gesundheitsschutz) hinzusteuern. Dabei dienten Modellrechnungen und nicht auf Fakten gestützte („postfaktische“) Annahmen zur Rechtfertigung politischer Zwangsmaßnamen. Diesem Irrweg liegt der spätestens seit David Hume bekannte Fehlschluß vom Sein auf das Sollen zugrunde.
Im ideengeschichtlichen zweiten Teil des Buches zeichnet Esfeld die Entwicklung von Wissenschaft und Rechtsordnung als Grundlagen der offenen Gesellschaft und als Voraussetzung für Fortschritt und Wohlstand nach. Aber beide laufen Gefahr, Opfer des eigenen Erfolgs zu werden, wenn sie sich zur Hybris verleiten lassen. Wissenschaftliche Hybris führt zum politischen Szientismus. Im Rechtsstaat kann sich die Versuchung als übermächtig erweisen, von der Sicherung der Freiheit vor ungewollten Übergriffen (negative Freiheit) zur positiven Beförderung der Freiheit und damit vom freiheitlichen Rechtsstaat zum interventionistischen Fürsorgestaat überzugehen, indem Anspruchsrechte zu Lasten von Abwehrrechten geschaffen werden.
Den Beginn dieser unheilvollen Entwicklung datiert Esfeld auf den 15. August 1971, als die Goldbindung des US-Dollars aufgehoben wurde. Dadurch wurde eine unbegrenzte Ausweitung der Geldmenge möglich, die wiederum die Finanzierung staatlicher Wohltaten wesentlich erleichterte. Dieses Instrument wurde zunächst zur Etablierung des Fürsorgestaates genutzt. 2020 trat dann die „real existierende“ Postmoderne in ihre zweite, totalitäre Phase ein, in der sich der Staat „eine unbegrenzte und damit totalitäre Steuerung der Lebensbahnen der Menschen“ anmaßt.
Der Minimalstaat ist keine Lösung
Ob und wie ein Weg zurück möglich ist, thematisiert Esfeld im dritten Teil – dem Teil, dessen Argumente und Empfehlungen auch bei den Freunden der Freiheit unter seinen Lesern nicht auf ungeteilte Zustimmung stoßen werden. Zwar ist seine Feststellung, daß Monopolisierung und Ideologisierung von Medien und Wissenschaft die größte Gefahr für die offene Gesellschaft seien und die staatliche Machtballung die Grundvoraussetzung dieser Monopolisierung bzw. Ideologisierung darstelle, bestimmt zutreffend.
Aber obwohl der moderne Staat mit seinen umfassenden Kompetenzen eine notwendige Bedingung für die genannte Entwicklung ist, ist er doch keine hinreichende Bedingung. Insofern ist es auch nicht zwingend erforderlich, den Staat weitestgehend zu entmachten und anstatt des modernen Wohlfahrtsstaats einen Minimalstaat zu etablieren, der sich im wesentlichen auf die Verteidigung nach außen und die Aufrechterhaltung von Recht und Ordnung im Inneren beschränkt.
Es ist zwar unbestritten, daß der Sozialstaat in den letzten Jahrzehnten, immer wilder gewuchert und immer seltsamere Blüten getrieben hat. Aber muß man ihn wirklich mit der Wurzel ausreißen oder reicht nicht ein radikaler Rückschnitt? Immerhin hat selbst Hayek, der aller sozialistischen Bestrebungen unverdächtig ist, keinen Grund gesehen, „warum der Staat die Individuen nicht in der Vorsorge für jene gewöhnlichen Wechselfälle des Lebens unterstützen sollte, gegen die wegen ihrer Ungewißheit nur wenige sich ausreichend sichern können“ (Der Weg zur Knechtschaft, 1944). Insbesondere aus ökonomischer Sicht erscheint das Vertrauen auf eine „brüderliche Wirtschaft“ (bei der jede soziale Absicherung auf Freiwilligkeit beruht), auf ein „freies Geistesleben“ (bei der es keine staatlich finanzierte Forschung gibt) und ein „freies Geld“ (bei dem es kein staatliches Geldmonopol gibt) überoptimistisch, um nicht zu sagen unrealistisch.
Deutschland muß ein „Land mit Mut“ werden
Speziell die Aussagen von Esfeld zum letztgenannten Punkt sind angreifbar: Bei „freiem Geld“ ist die Kreditvergabe gerade nicht limitiert, weshalb es keine Garantie gegen spekulative Blasen oder Inflation darstellt. Das „Wildcat-Banking“ in den Antebellum-USA und die Erfahrungen mit Kryptowährungen heutzutage machen das mehr als deutlich. Ebenfalls nicht nachvollziehbar ist die Behauptung, daß die Postmoderne am Tag der Aufhebung der Goldbindung des US-Dollars das Licht der Welt erblickt habe.
Einerseits wurde die Goldbindung schon früher (zumindest phasenweise) ausgesetzt, ohne daß die von Esfeld beschriebenen Entwicklungen aufgetreten sind. Andererseits hat in der Bundesrepublik nie eine Goldbindung bestanden, und die Bundesbank hat dennoch für Preisstabilität zu sorgen und eine monetäre Finanzierung des Staates zu verhindern gewußt. Insoweit der Sozialstaat in dieser Zeit übermäßig gewachsen ist, lag dies gewiß nicht am staatlichen Fiat-Geld.
Wenn es aber am Ende des Buches darum geht, diesseits der Minimalstaatsutopien erste Schritte weg von der real existierenden Postmoderne zu gehen, kann Esfeld wieder alle Leser hinter sich versammeln. Denn wer würde bestreiten, daß es unabdingbar ist, „Urteilskraft wieder einzusetzen und sich nicht durch Indoktrination die eigene Urteilsbildung nehmen zu lassen“, skeptisch gegenüber Machtkonzentrationen zu sein und Zivilcourage zu zeigen? Nur wenn wir ein „Land mit Mut“ werden, können wir die offene Gesellschaft wiedergewinnen.