Der Publizist Konstantin Fechter, der auch für diese Zeitung tätig ist, hat in den zwei Abhandlungen „Bürgerkrieg und Sündenbock. Eine Deutung“ (2019) und „Feindschaft. Eine Klärung“ (2021) den Freedom-and-Democracy-Nebel zerteilt und mit Carl Schmitt, René Girard und mit den alten Griechen das politische Gelände neu vermessen. Beide Texte hängen eng miteinander zusammen, denn der Bürgerkrieg ist die bis zum Äußersten intensivierte Feindschaft. Er besiegelt den Zerfall der ursprünglich homogenen politischen Einheit.
Eine „ausgeprägte politische, ethnische, soziale Zerklüftung“ führt zu Konflikten und Dissonanzen, die sich durch keinen Kompromiß mehr befrieden lassen. Sie erreichen eine Siedehitze, die den Gegner zum absoluten Feind modelliert. Die politische Auseinandersetzung schlägt um in offenen Krieg, in dem jede Seite die Definitionshoheit über das Ganze, über den Staat, mit derselben Absolutheit beansprucht, mit der sie dem Feind das Mitspracherecht verweigert. Er wird geächtet, mundtot gemacht, getötet, um eine neue Homogenität nach eigenen Vorstellungen zu erschaffen.
Im Bürgerkrieg sind Innen und Außen nicht mehr zu unterscheiden, schon der Gartenzaun kann eine tödliche Grenze markieren. Der Nachbar kann sich als feindlich gesinnt und als Mörder, der Fremde hingegen als Verbündeter und Retter herausstellen. „Der Andere erweist sich als mein Bruder, und der Bruder erweist sich als mein Feind“, heißt es bei Carl Schmitt. Der Bürgerkrieg führt zur Klaustrophobie, Hysterie und blutiger Raserei. Fechter schlägt einen Bogen bis zur Geschichte von Kain und Abel, einer Urszene des Brudermords, die aufzeigt, daß selbst intimste soziale und anthropologische Bindungen keine Sicherheit garantieren.
Postmoderne bedeutet Aufhebung tradierter Verbindlichkeiten
Von der Zusammenfassung des grundsätzlich Bekannten stößt Fechter zu einer originellen Analyse der postmodernen Gegenwart vor. Postmoderne heißt: Aufhebung tradierter Verbindlichkeiten, Zusammenbruch der großen Erzählungen und überkommener Ordnungsmuster. Ihre Dekonstruktion führt zur Atomisierung, Fragmentierung und Instabilität. Daraus entstehen neue Dissonanzen und Konflikte, vor allem zwischen denen, die diese Transformation als Fortschritt vorantreiben und jenen, die sie als Weg ins Chaos ablehnen.
Das Bewußtsein des linearen Zeitablaufs wird durch das Gefühl ewiger, nachgeschichtlicher Gegenwart ersetzt. Verloren gehen sowohl das Geschichtsbewußtsein als auch die Fähigkeit zur Prognostik, zur Vorausschau auf die Folgen eigenen Handelns und Unterlassens. Unfähig, seine Lage realistisch einzuschätzen, erleidet der postmoderne Mensch einen Gegenwarts- und Weltverlust. Schlafwandlerisch bewegt er sich im Spannungsfeld zwischen universalistischen Postulaten und gesinnungsethisch aufgeladenem Individualismus.
Die Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung, die „Berliner Republik“, sei, so Fechter, ein postmoderner Staat par excellence, der sich aus der Negativ-Fixierung auf den NS-Staat legitimiert. Dabei wird ignoriert bzw. die Ignoranten sind in Unkenntnis, daß 1933 ff. nicht der Staat, sondern die ideologische Bewegung, die von im Besitz ergriffen hatte, des Übels Wurzel war. Heute fühlt eine unwissende „Zivilgesellschaft“ sich berufen, als „ausdrücklicher Gegenspieler und Mißtrauensbekunder gegenüber dem Staat“ aufzutreten.
Nun, die postmoderne „Zivilgesellschaft“ hat den geschwächten und entkernten Staat sogar schon weitgehend in Besitz genommen. Nach außen tritt sie mit dem Anspruch auf, das Prinzip der Feindschaft in wohltemperierter Harmonie aufzuheben. Das ist in der Nachfolge Rousseaus gedacht, der – in Abgrenzung zu Thomas Hobbes – gemeint hatte, daß der Mensch von Natur aus gut sei und erst die Entfremdung in Staat und Gesellschaft, die eine „moralische oder politische Ungleichheit“ erzeuge, ihn zu bösem Handeln veranlasse.
Feindschaft ist eine notwendige Konstante
Dazu sei angemerkt, daß der Soziologe Ulrich Beck (1944–2015) in den 1980er Jahren eine postideologische „zweite“ bzw. „reflexive Moderne“ postuliert hatte, in der die klassische Politik sich mehr und mehr zur „Subpolitik“, zur kooperativen „Gesellschaftspolitik von unten“ entwickle und die Links-Rechts-Unterscheidung sowie die Trennung von öffentlich und privat an Bedeutung verliere.
Die Wirklichkeit sieht natürlich anders aus, denn die Feindschaft ist eine anthropologische und notwendige Konstante und drückt ein dialektisches Verhältnis aus: Der Feind ist eine unerläßliche Herausforderung, nämlich „die eigene Frage als Gestalt“ (Theodor Däubler), in deren Beantwortung sich das Selbst konstituiert. In der Bekämpfung des Feindes soll es um den Sieg, aber nicht um Vernichtung gehen, weil sonst das Korrektiv für das eigene Ich entfällt.
Zu dieser Hegung ist die Postmoderne außerstande. Sie negiert die Feindschaft und beschwört sie gleichzeitig, ohne sich diesen Widerspruch bewußt zu machen. Die Unerbittlichkeit der „postmodernen Ironie“ findet sich auch bei Beck, der die politische Feindschaft verabsolutierte, indem er sie zu eliminieren vorgab. Der totale Feind wurde von ihm nicht als solcher benannt; er hieß „Traditionalist“ und „Fundamentalist“, er war ein bornierter Modernisierungsverweigerer, der wegen seiner falschen Haltung zur Welt vom öffentlichen Diskurs ausgeschlossen gehört.
Eine Gesellschaft bestehend aus „Empörungs- und Zornkollektiven“
Die Vision frei flottierender Individuen, die ihre diversen Identitäten ausleben, läuft in der Praxis auf eine fragmentierte, aus „Empörungs- und Zornkollektiven“ bestehende Gesellschaft hinaus, in der „Sozialwissenschaften und Linguistik sich in gigantische Werkstätten der Feinddeutung verwandeln“. Die interne Feindmarkierung verschärft sich unter dem Eindruck des externen Dschihadismus, der in den europäischen Städten Platz greift. Er verleiht den Widersprüchen, die dieses Gesellschaftskonzept produziert, eine lebensgefährliche Kontur. Um trotzdem die Delegitimierung des Projekts zu verhindern, muß der Dschihadismus aus der Diskussion gehalten werden, was wiederum eine Verschärfung der Repression erfordert.
Die ständig sich vermehrenden Feindvarianten fließen im Feindbild des „(Neuen) Rechten“ respektive „Nazis“ zusammen. Im „Kampf gegen Rechts“ versucht die fragmentierte Gesellschaft eine temporäre Homogenität herzustellen; in ihr können die Postmodernisten sich sogar mit den Islamisten umarmen. Was in den Kategorien aufgeklärter Vernunft nicht mehr faßbar ist, erklärt sich als Rückgriff auf ein magisches Ritual, das der Anthropologe René Girard als den Versuch archaischer Völker beschrieben hat, den Zorn der Götter zu besänftigen und den gestörten inneren Frieden wiederherzustellen. Dazu werden die Sünden und Befleckungen der Gemeinschaft auf einen Sündenbock delegiert, der rituell getötet oder in die Wüste geschickt wird.
Im antiken Griechenland war der Pharmakos, das Menschenopfer, das Objekt der kollektiven Reinigung. Heute sieht der „Rechte“ sich in die Funktion des Pharmakos versetzt. Er muß zum Schweigen gebracht, der braune Sündenbock getötet werden – vorerst bloß symbolisch, gesellschaftlich und sozial –, um das Problem aus der Welt zu schaffen. Dahinter steht die Sehnsucht nach der Aufhebung aller Widersprüche, letztlich der menschlichen Tragik überhaupt, durch eine – so Fechter – „selbstinitiierte Katharsis“.
Fechter bezieht sich auch auf Ernst Jünger
Weil immer schärfere Konflikte in immer kürzeren Abständen an die Oberfläche dringen, steigt der Bedarf an Sündenböcken. In der Spirale des selbstgeschaffenen Chaos gefangen, reagieren die Beschwörer der totalen Feindschaft immer aggressiver. „Für sie ist der Feind nicht mehr Bedrohung des Seins, sondern dessen Grundlage.“ Es herrscht bereits Vorbürgerkrieg, der völlig einseitig und mit eindeutig verteilten Kräfteverhältnissen geführt wird. Fechter wirft die Frage auf, ob es eines Tages zur Sortierung nach Unbescholtenen und Auszusondernden kommt. Er beschließt den Traktat über die Feindschaft mit einem wunderbaren Kapitel, in dem er am Beispiel Ernst Jüngers aufzeigt, wie man lernt, die Feindschaft zu akzeptieren und den Feind zu achten.
Realistischer erscheinen jedoch die Sätze über den Feindschaftskomplex der Gesellschaft, der unreflektiert bleibt und dessen Gewaltausbrüche unkalkulierbar sind. René Girard schrieb über die Mimesis: „Es liegt Nachahmung vor, wenn einer Handlung unmittelbar die Vorstellung einer ähnlichen, von einem anderen vorher vollzogenen vorausgeht, ohne daß sich zwischen Vorstellung und Ausführung explizit oder implizit irgendein Denkvorgang einschaltet, der diese Handlung ihrem Wesen nach durchdringt.“ Die manisch-magische Fixierung auf das Dritte Reich könnte eines Tages eine unheimliche mimetische Kraft entfalten.
Konstantin Fechter hat zudem einen Roman verfaßt, „OberOst“, der während des nachrevolutionären Bürgerkriegs im Baltikum spielt und der Versuch ist, seine theoretischen Überlegungen literarisch zu illustrieren. Auf jeden Fall darf man den Autor zu den klügsten und sprachgewandtesten Zeitdiagnostikern zählen.